Marius ist zehn Jahre alt und hat gerade die vierte Primarklasse in Herisau AR beendet, als sich seine Welt verändert: Seine Eltern trennen sich, die Mutter hat sich neu verliebt. In eine Frau. Mit ihren zwei Söhnen zieht sie ein paar Häuser weiter zu ihrer neuen Freundin und deren drei Kindern. «Auf einmal war alles anders, aber als Kind habe ich das gar nicht so realisiert», sagt Marius Denoth.
Zu Besuch bei Mama
Der 25-Jährige lebt heute in Zürich, hat gerade das Jurastudium abgeschlossen und arbeitet bei einer grossen Anwaltskanzlei in der Stadt. Er ist zu Besuch bei Mama Ariane Thurnheer, 60, und Eva Rothenfluh, 57. Die zwei Frauen wohnen inzwischen in Frauenfeld TG. Die Mutter von Marius feiert am folgenden Tag ihren Geburtstag, die ganze Familie reist für einige Tage gemeinsam ins Engadin.
Stets lustig
«Erst jetzt als Erwachsener realisiere ich, wie viel sich mit der neuen Situation verändert hat», sagt der junge Mann am Stubentisch. Die neue Freundin der Mutter kannte er schon, sie war früher seine Primarlehrerin. «Aber auf einmal lebte ich mit drei anderen fremden Kindern zusammen. Doch irgendwie war das schon sehr cool!» Mit seinen neuen Stiefschwestern spielt er stundenlang. «Wir hatten ein riesiges Frosch-Plüschtier und haben das immer verkleidet. Zu Hause war es stets lustig.»
Ausserhalb der vier Wände ist es teils alles andere als lustig. «Wir Kinder haben das im Dorf schon zu spüren bekommen. Die Leute waren engstirnig, es gab schwierige Situationen», sagt er. Auf dem Heimweg nach der Schule wurde er gehänselt. Wo denn sein Vater sei, zwei Mütter gingen ja gar nicht. «Es war jahrelang ein Thema. Unsere Familie war definitiv im ganzen Dorf bekannt.» Aber in dieser Zeit lernte der Junge, sich nicht alles gefallen zu lassen. «Ich wurde dadurch stärker. Bis heute gebe ich nicht viel auf die Meinung anderer. Sollen sie hinter meinem Rücken reden, mir ists egal!»
Mut zur Liebe
Ariane Thurnheer lernte ihre Partnerin Eva Rothenfluh im Volleyballverein kennen. Beide wollten anfänglich ihre Familien nicht zerrütten. Doch die Gefühle waren stärker, die Frauen beschlossen, reinen Tisch zu machen. «Ich bin stolz auf sie», sagt Marius. «Dass sie mutig waren und zueinander stehen. Sie haben eine Entscheidung in ihrem eigenen Leben getroffen und leben nach dieser Entscheidung.»
Im Dorf geblieben
Als die zwei Frauen vor 15 Jahren ein Paar wurden und gemeinsam mit ihren fünf Kindern in das grosse Haus von Eva zogen, war ein Umzug aus dem ländlichen Herisau für die Patchworkfamilie kein Thema. «Wir wollten für die Kinder ja nicht noch eine zusätzliche Veränderung erzwingen und sie aus ihrem Umfeld reissen», sagt Eva Rothenfluh.
Zum Vater hat die ganze Familie ein gutes Verhältnis. Als Kind verbrachte Marius jedes zweite Wochenende bei ihm. «Als ich älter wurde, wollte ich die Freizeit lieber mit meinen Freunden verbringen», sagt er. Heute feiert die ganze Familie gemeinsam Weihnachten. «Ich glaube nicht, dass das Familienleben so harmonisch gewesen wäre, wenn ich bei meinem Ex-Mann geblieben wäre», sagt Ariane Thurnheer. Und Marius Denoth ergänzt: «Ich bin froh, dass mein Vater und meine Mutter von Anfang an gut miteinander klarkamen.»
Das Kindeswohl
Am 26. September stimmt die Schweiz über die «Ehe für alle» ab. «Kinder brauchen Vorbilder von beiden Geschlechtern», argumentieren die Gegner. Das Kindeswohl bleibe auf der Strecke bei gleichgeschlechtlichen Eltern. «Das ist einfach nur Schwachsinn», sagt Marius Denoth. «Das Geschlecht der Eltern spielt überhaupt keine Rolle. Hauptsache, sie kümmern sich liebevoll um das Kind.» Ihm habe es nie an etwas gefehlt. Wie er sich rasieren muss, weiss er. «Und einen Nagel einschlagen könnte ich wahrscheinlich auch dann nicht, wenn ich mit einem Vater aufgewachsen wäre. Ich bin einfach nicht der Typ dafür», sagt er und lacht.
Bitte mehr Verständnis!
Das Argument der Gegner macht ihm zu schaffen. «Klar hätte ich es wahrscheinlich einfacher gehabt, wenn ich mit Papa und Mama aufgewachsen wäre. Aber das hat mit unserer Gesellschaft zu tun. Nicht damit, dass ich nicht genug Liebe bekommen habe.» Marius Denoth fehlt in der Schweiz das Verständnis für andere Familienformen. «Ich wünsche mir, dass es auch normal ist, wenn jemand zwei Mütter hat. Denn für viele von uns ist das die Realität.»