Die Schweizer Fahne vom 1.-August-Fest hängt noch am Fenstersims. «Die kann man gut länger draussen lassen», sagt Marco Chiesa, 45, mit einem breiten italienischen Akzent und strahlt. Soeben ist er von den Familienferien in Lenz GR wieder nach Hause in Ruvigliana bei Lugano TI zurückgekehrt. Die Sicht von seinem Garten reicht über den halben Lago di Lugano.
Seit zwölf Jahren lebt Marco Chiesa mit seiner Ehefrau Monja und den beiden Kindern, Mathias und Micol in der Parterrewohnung eines Mehrfamilienhauses. Seine Frau ist hier aufgewachsen, die Schwiegereltern wohnen einen Stock weiter oben.
Ende Juli teilte die SVP-Findungskommission mit, dass der Tessiner Ständerat die Nachfolge von Albert Rösti, 53, antreten soll. Wählen die Delegierten ihn am 22. August zum Parteipräsidenten, hat die SVP erstmals einen Chef aus der lateinischen Schweiz. «Ich bin ein echter Luganese, wie meine Eltern.»
Als er sieben Jahre alt ist, zieht die Familie wenige Kilometer von Lugano nach Villa Luganese. Am Küchentisch politisieren die Chiesas nur selten. Die Mutter arbeitet als Gemeindesekretärin, der Vater ist Beamter beim Kanton. «Und fast noch wichtiger: Er war Fussballer beim FC Lugano.» Der Stürmer Antonio Chiesa gewann mit seiner Mannschaft 1968 den Schweizer Cup und wurde so zum Lokalhelden. «Viele Tessiner tragen diese Mannschaft noch heute im Herzen, weil die meisten Spieler Einheimische waren. Sie haben sogar gegen Barcelona gespielt», sagt Marco Chiesa stolz. «Am Anfang meiner Karriere war ich nicht Marco, ich war der nur Sohn von Antonio Chiesa», sagt er und lacht laut. Die Eltern liessen sich früh scheiden, heute hat der Politiker einen 18-jährigen Halbbruder von seinem Vater.
«Ich bin einfach ein Hardliner mit Herz und Tessiner Charme.»
Marco Chiesa
Der Tessiner lacht häufig und klopft gerne Sprüche. Er ist einer, der lieber mit einem Bier in der Kurve Fussball schaut als von der VIP-Lounge aus. Nördlich des Gotthards gilt er als unbeschriebenes Blatt. Und eigentlich hatte Chiesa im Februar für den Chefsessel bei der SVP abgesagt. «Meine Frau wollte das nicht. Zu Hause bin ich nur der Vize», scherzt er. «Ich hatte das Gefühl, für uns als Familie sei das zu viel», sagt Gattin Monja. «Marco ist jetzt schon viel in Bern, und unsere Kinder kommen in ein Alter, wo es nicht einfacher wird.» Dennoch entschied sich das Paar um. «Ich glaube, für meinen Mann ist es eine schöne Herausforderung, und er hat jetzt das richtige Alter. Ich und die Kinder werden ihn so oft wie möglich begleiten.»
Seine Frau Monja lernt Marco Chiesa mit 18 Jahren in Lugano kennen, sie ist damals 15. «Er war meine erste grosse Liebe», sagt sie. Er zwinkert. Doch das Paar trennt sich für mehrere Jahre. «Wir behielten aber stets Kontakt, und vor 20 Jahren fanden wir wieder zueinander.» 2007 heiraten sie in der Kapelle einige Meter unterhalb ihrer Wohnung.
Marco Chiesa studierte Betriebswirtschaft in Freiburg und arbeitete danach beim Wirtschaftsprüfer PWC und bei der Grossbank UBS. «Als ich 27 Jahre alt war, wollte ich aber etwas mit Menschen machen.» Er übernahm die Leitung eines Altersheims in Grono GR, gründete mit vier Freunden drei Kinderkrippen und wurde Präsident der Winterhilfe Tessin. Als er seine Kandidatur fürs SVP-Präsidium bekannt gibt, kündigt er im Seniorenzentrum.
Im Erdgeschoss hat er sich für den neuen Job ein Büro eingerichtet. Die weissen Wände riechen noch nach Farbe. «Ich mache einen Online-Deutschkurs.» Üben kann er auch mit seiner Ehefrau. Deren Mutter stammt aus Meiringen im Berner Oberland. «Ich versuche jetzt, so viel Deutsch wie möglich mit ihm zu reden», sagt sie. Für die SRF-«Arena» reiche es noch nicht ganz.
In den letzten Jahren legte Chiesa im Tessin die typische Ochsentour zurück. Bei den Wahlen 2015 schafft er den Sprung in den Nationalrat. Und letztes Jahr verdrängt er die CVP-Grösse Filippo Lombardi, 64, überraschend aus dem Ständerat.
Fast jedes Wochenende und alle Urlaube verbringen die Chiesas in ihrer Ferienwohnung in Lenz GR, nur einige Kilometer vom Anwesen der Parteikollegin Magdalena Martullo-Blocher, 51, entfernt. Chiesa wird eine enge Beziehung zu den Blochers nachgesagt. «Ich habe sogar gehört, Christoph soll der Götti von meinen Kindern sein», sagt er. «Das stimmt natürlich nicht. Ich hatte nicht oft direkt mit ihm zu tun.» Mit Martullo-Blocher sass er im Nationalrat. Er hat sie auch schon auf der Skipiste in Graubünden getroffen. «Marco kann es sehr gut mit den Leuten. Das Wichtigste aber ist, dass er in allen wesentlichen Themen voll auf Parteilinie liegt», sagt Martullo-Blocher. Nur punktuell weicht er ab. Etwa in der Familienpolitik, wo er staatliche Gelder für Kinderbetreuung befürwortet. Bei der Abstimmung zum zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub sagte er Ja, inzwischen änderte er seine Meinung: Aufgrund der Corona-Krise sei es nicht der richtige Augenblick, ein neues Sozialwerk einzuführen.
Von politischen Gegnern wird er auch geschätzt. Marina Carobbio, 54, SP-Ständerätin und ebenfalls aus dem Tessin, sagt: «Er ist sympathisch, man kann mit ihm reden. Aber politisch ist er voll auf SVP-Linie.» Und wie schätzt Marco Chiesa sich selber ein? «Ich bin einfach ein Hardliner mit Herz und Tessiner Charme.»