Genug ist genug. So sehr die klickende Kamera die siebenjährige Julia auch fasziniert hat – jetzt mag sie nicht mehr fürs Familienfoto posieren. Julia schüttelt die Hand ab von Papa Mario Schmid, 45, und trabt über die Wiese vor ihrem Elternhaus in Zizers GR. Versonnen betrachtet sie die Blumen, spürt das Gras an ihren Waden. Ihre Eltern, Schwester Giada, 3, der Fotograf, sie sind im Bruchteil einer Sekunde ganz weit weg von Julia.
«Gesundes Mädchen» steht in Julias Vorsorgeheft, eingetragen nach ihrer Geburt am 9. März 2014. Julia entwickelt sich normal. Dass sie spät sprechen lernt, schieben die Eltern neben den häufigen Ohrenentzündungen auf die Dreisprachigkeit: Zu Hause wird neben Deutsch Italienisch gesprochen, die Muttersprache vom Papa, und Romanisch, die Muttersprache von Mama Ursina, 42. Dass sie mit drei Jahren immer eigensinniger wird, kaum mehr auf jemanden hört, immer ihr eigenes Ding durchziehen will, schiebt Ursina auf ihre zweite Schwangerschaft.
Mit fünf kommt Julia in den Kindergarten. Da geht plötzlich gar nichts mehr. «Sie wollte jeden Morgen in einen anderen Kindergarten als den ihren gehen. Ich konnte ihr einfach nicht erklären, dass dieser nicht ihr Kindergarten ist», erzählt Ursina Schmid. Dann beginnen die Rückschritte. Julia kann sich nicht mehr alleine die Schuhe anziehen. Nicht mehr mit Besteck essen. Bewegt sich immer unbeholfener.
Es folgt Abklärung um Abklärung. ADHS wird ausgeschlossen, Autismus ebenfalls. Dann die Diagnose. Den 5. Dezember 2019 bezeichnen Ursina und Mario Schmid als «schwärzesten Tag unseres Lebens». Und zugleich als Erleichterung. Denn endlich hat all das einen Namen: Sanfilippo-Syndrom. Julia fehlt ein Enzym, das im Hirn grosse, komplexe Zuckermoleküle abbaut. So füllt sich ihr Hirn mit der Zeit mit «Abfällen», die ihr Körper nicht ausscheiden kann. Als Folge verlernt sie innerhalb kurzer Zeit alles, was sie in den ersten Lebensjahren gelernt hat. Julia hat eine Art von «Kinder-Demenz». Die Krankheit ist sehr selten – etwa eines von 70'000 Kindern ist betroffen – und momentan weder therapier- noch heilbar. Ohne Therapie beträgt Julias Lebenserwartung etwa 15 Jahre.
«Von wem bist du das Schätzeli?», fragt Mario, der seine ältere Tochter fest im Arm hält. Julia hört gebannt zu, beobachtet intensiv das Gesicht ihres Vaters. Ein feines Lächeln umspielt ihre Lippen. «Papa», sagt sie. Ihr Vater lacht erleichtert auf. Die Angst vor dem Moment, in dem Julia dieses Wort nicht mehr sagen kann, ist riesig. Noch spricht sie einzelne Worte, auch Satzfragmente. Und Julia singt. Wenn ihr Mami das Samichlaus-Lied «Was isch das für es Liechtli» anstimmt, singt die Siebenjährige jedes Wort mit. Als sie ihr danach die in Joghurt aufgelöste Trehalose in den Mund schieben will, öffnet Julia diesen nur widerwillig.
«Wir können nicht einfach zusehen, wie uns diese Krankheit Stück für Stück unsere Tochter wegnimmt.»
Aber auf dem Zucker, der aus zwei Glukosebausteinen besteht, ruhen momentan ganz viele Hoffnungen der Schmids. Bei Lebensmitteln verhindert Trehalose zum Beispiel sowohl das Austrocknen als auch das Durchweichen. Und sie wird vom Körper langsam abgebaut, sodass der Blutzuckerspiegel nicht zu stark steigt. Den Tipp hat Ursina von Sanfilippo-Eltern aus den USA erhalten, über eine Elterngruppe in den sozialen Medien. «Natürlich ist es schwer zu sagen, ob es wirklich an der Trehalose liegt, aber wir haben das Gefühl, dass Julia seit einem guten Jahr recht stabil ist und langsamer Rückschritte macht, ja sogar das eine oder andere wieder dazugelernt hat.» Ursina und Mario würden gern eine Studie dazu durchführen lassen.
Doch bei der Finanzierung harzt es. Die Krankheit ist zu selten, als dass die Pharmaindustrie daran Interesse hätte. Ursina und Mario Schmid haben deshalb den Verein Hope for Julia ins Leben gerufen, der unter anderem Spenden für die Forschung sammelt. «Das Ganze ist sehr aufwendig. Aber es gibt uns das Gefühl, etwas zu tun», sagt Ursina. «Wir können nicht einfach zusehen, wie uns diese Krankheit Stück für Stück unsere Tochter wegnimmt.»
Es ist Zeit für den Zvieri. Giada giesst vorsichtig ein Glas Wasser ein und reicht es Julia mit beiden Händen. Die Dreijährige ist ihrer grossen Schwester in ihren Fähigkeiten merklich voraus. «Julia ist kräftig, aber mit Giada kann sie zwischendurch auch sehr fein sein», erzählt Ursina. Für die Kleinere ist es normal, auf ihre Schwester Rücksicht zu nehmen. Die Eltern achten darauf, auch mal etwas mit ihr allein zu machen, zum Beispiel wenn Julia in der sonderpädagogischen Schule ist. «Wir hoffen, Giada kommt nicht zu kurz», sagt ihr Mami.
Für sie selbst und ihren Mann sind Zeit allein und Zeit zu zweit schon lange Fremdwörter. Job und Kinderbetreuung haben sie sich aufgeteilt. Mario arbeitet zu 60 Prozent als Automatiker, Ursina, die ausgebildete Lehrerin ist, zu 50 Prozent bei der AHV. «Ich bin froh um einen Bürojob, bei dem ich im Notfall auch mal verschwinden kann.» Denn im Gegensatz zu anderen Kindern braucht Julia, je älter sie wird, immer mehr Betreuung. Alleine essen lassen kann man sie beispielsweise nicht mehr. «Sie kaut nicht richtig und verschluckt sich.» Auch die Nächte seien mal besser, mal schlechter. Jede Nacht schläft ein Elternteil bei Julia, momentan meist der Papa.
Wenn Julia am Gartenzaun steht, kann Ursina kurz durchschnaufen und sich einen Kaffee machen. Hier beobachtet das Mädchen, was auf der Strasse passiert. Sie wird gegrüsst, die Leute reden mit ihr, auch wenn sie keine Antwort gibt. Im Dorf kennt man Julia. Viele unterstützen den Verein ihrer Eltern. «Es ist schön zu sehen, dass man nicht allein ist», sagt Mario. Und weiter: «Unser grösster Traum ist es, dass Julia sich irgendwann bei allen persönlich bedanken kann.»