Einst erscheint er wie ein Messias. Barack Obama (61). Damals, im Juli 2004, als er in Boston diese umwerfende Rede hält und ein vereintes statt ein gespaltenes Amerika heraufbeschwört. Wer in der Sporthalle sitzt, spürt förmlich: Da spricht ein aussergewöhnlicher Mensch. Ein eleganter, kluger und anständiger Mann. Ein zukünftiger Präsident. Rhetorisch erinnert er an Ronald Reagan, an diesen ewigen Optimisten. Allerdings ist Obama mit einem Twist versehen, wie ihn kaum ein Politiker mitbringt: Er ist cool!
Der Showman der zeitgenössischen Politik kommt nun in die Schweiz und wird am Abend des 29. April dort stehen, wo sonst Rockstars stehen, auf der Bühne des Zürcher Hallenstadions, bewundert und verehrt von zahlenden Fans.
Auf der Bühne in Boston rüttelt er Amerika auf, nach dem Trauma von 9/11 wieder an sich zu glauben. Uns in Europa erlaubt Obama, Amerika nach den Bush-Jahren wieder gernzuhaben.
Wir saugen seine Geschichte auf. Wie er als Sohn eines schwarzen Ökonomen aus Kenia und einer weissen Anthropologin aus Kansas auf Hawaii zur Welt kommt. Dass seine Mutter ihn allein grosszieht, er in Indonesien lebt. An der Harvard University studiert er Recht, rennt aber nicht dem Geld hinterher, sondern will Chicago als Sozialarbeiter friedlicher machen.
Mit Michelle Robinson heiratet er eine blitzgescheite Frau. Sie führt ihn ein in eine Welt, die er nicht kennt: in afroamerikanische Familien. Das Paar gibt sich nahbar, Menschen wie du und ich, einfach schicklicher. So stimmt sie seiner Präsidentschaftskandidatur erst zu, als er die Zigaretten gegen Nikotin-Kaugummis ausgetauscht hat.
Die Wahl ins Weisse Haus gewinnt er mit bestechend selbstsicheren Auftritten und einer nie dagewesen Onlinekampagne. Er begeistert junge Menschen für Politik. Ihnen gefällt, wie blendend alles aussieht, optimistisch und modern wirkt.
Keine Rolle spielt, dass Obama zwar wunderbar spricht, was er vorhat, aber diffus bleibt. Denn nicht mit einem Wahlprogramm, sondern mit einer guten Geschichte wird man Präsident. Jene von Obama ist einzigartig. Der erste schwarze Präsident im Weissen Haus.
Nun wohnt eine intakte schwarze Familie im White House, die gemeinsam isst, Kultur mag und gesellschaftliche Trends setzt. Auf dem Gelände des Weissen Hauses entsteht ein biologischer Gemüsegarten. Unter Obama wird die Ehe für alle legal, er bringt den Pariser Klimavertrag durch, schliesst Kohlegruben. Inspirieren lässt er sich von Teenagern – von seinen Töchtern Sasha und Malia. Kein einziger privater Skandal überschattet die acht Amtsjahre.
Die Obamas reden öffentlich über Liebe, ohne peinlich zu wirken. «Michelle, nie habe ich dich mehr geliebt», sagte Barack in der Nacht, als er 2012 die Wiederwahl gewinnt. Nun sei er stolz, «dass sich der Rest Amerikas in dich verliebt hat». Es sei eine Liebe, die immer weiterwachse, erwidert sie. Sie schätze ihn als Präsidenten, der auf Ideen anderer höre und unter Stress ruhig bleibe. «A cool cat» eben, gelassen wie eine Katze.
Unermesslich sind die Hoffnungen in diesen charismatischen Mann. Nicht minder klein die Aufgaben, die auf ihn warten. Nach der Finanzkrise muss Obama die torkelnde globale Wirtschaft stabilisieren und das gespaltene Land trotz Kriegen in Irak und Afghanistan einen. Seine Hautfarbe scheint ihn zu verpflichten, über die Folgen der Sklaverei zu reden. Als Friedensnobelpreisträger würde er die Welt befrieden.
Bei so viel Last ignorieren viele Fans seine Schattenseiten. Etwa, wie er die weit erfahrenere Widersacherin Hillary Clinton 2008 in den Vorwahlen 2008 aus dem Weg räumt. Eine Beraterin Obamas verunglimpft sie als «Monster». Das hässliche Wort bleibt an Clinton haften wie an Obama der Slogan «Yes we can!». Erst später, als man Obamas Reden mit Taten vergleicht, beginnen einige, den Satz einzuordnen: brillant, aber inhaltsfrei. Ein Einzeiler, der alles und nichts bedeutet. Und deshalb zu Obama passt. Der Showman trägt perfekt sitzende Anzüge, ist stets darauf bedacht, gut auszusehen, gut zu klingen. Auf seine eleganten Sätze aber folgen selten Erfolge.
Er versäumt es, eindringlich über das Vermächtnis der Sklaverei zu reden. Weil er nicht der Präsident der Schwarzen sein will, sondern der aller Amerikanerinnen und Amerikaner. Vielleicht kann er nicht nachvollziehen, wie tief dieser vereiterte Stachel sitzt. Nie hat er in einer schwarzen Innenstadt gelebt, wo Bandenkriege toben und Verzweiflung regiert. Seine Vorfahren mütterlicherseits besitzen Sklaven in Kentucky.
Die Geschichte beurteilt die amerikanischen Präsidenten an ihrem Mut. Obama setzt auf halbherzige Kompromisse. Er lässt die Pharmabranche das Kernstück seiner Amtszeit verwässern, die Krankenkasse für alle, Obamacare. Ausdrücklich warnt er den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad davor, Giftgase einzusetzen. Als Assad diese rote Linie überschreitet, schaut Obama tatenlos zu. Millionen flüchten, Hunderttausende sterben, Syrien gerät unter russischen Einfluss.
Zwar töten US-Soldaten den Terrorfürsten Osama bin Laden und somit den Drahtzieher hinter 9/11. Den Aufstieg der Terrorbande IS aber beachtet Obama zu wenig. Er erlaubt über 500 Drohnenangriffe in Jemen, Pakistan und Somalia, bei denen Tausende von Menschen sterben, darunter viele Zivilisten. Die Hinrichtungen aus dem Hinterhalt schaden dem Ansehen der USA in der islamischen Welt.
Obama gibt sich volksnah, ist aber elitär. Zeitweise lässt er sich nur noch von seinem Hoffotografen ablichten. Die Welt betrachtet er zunehmend durch die Augen Hollywoods an der Westküste und die der Finanzbranche an der Ostküste. Die Menschen in den sogenannten Flyover-Staaten in der Mitte des Landes scheint er zu vergessen. Die Brot-und-Butter-Amerikaner interessieren ihn weniger als Chiasamen- und Avocado-Toast-Esserinnen. Im «Rostgürtel» versteht man ihn nicht. Dort fühlen sich viele vernachlässigt, weil sie sehen, wie ihre Jobs nach China verschwinden. Manche, die Obama zweimal gewählt haben, geben 2016 ihre Stimme Donald Trump.
Unbestritten bleibt seine Gabe, Geschichten zu erzählen, selbst wenn er zuweilen zum Kitsch neigt. Etwa, wenn er sagt, er habe einen Kaffeetisch für seine Studentenbude in der Müllhalde gefunden. Oder wenn er mit einem «verrosteten Auto» zum ersten Rendez-vous mit Michelle gefahren sein will, an den Füssen seine einzigen guten Schuhe, die eine halbe Nummer zu klein gewesen seien.
Mit seichter Unterhaltung gestaltet Barack Obama seine Zeit seit dem Auszug aus dem Weissen Haus. Zusammen mit Michelle gründet er einen Medienkonzern selbstgerechten Namens: Higher Ground Productions – Erhabene Produktionen. Weltweit vertreiben sie Bücher und Filme, die weder provozieren noch anregen.
Obama verdient damit Millionen, mehr als jeder Ex-Präsident vor ihm. Cool ist das nicht mehr. Aus dem Messias ist ein Mensch geworden.