Ausgerechnet ein Paketlieferant versperrt Jan Widmer, 23, den Weg zum nächsten Abnehmer. Der Zivildienstleistende will mit dem Lieferwagen der «Schweizer Tafel» in einen Innenhof im Basler Gundeli-Quartier. Dort, im Wohnheim «Spektrum», leben elf Frauen und Männer mit psychischen Beeinträchtigungen. Konzentriert zirkelt Jan das sieben Meter lange Gefährt im Rückwärtsgang in die enge Durchfahrt. Ausstaffiert mit zwei Einkaufstrolleys nehmen Betreuer David, 36, und ein Heimbewohner die Waren in Augenschein, die Jan dabeihat. «Wir brauchen Brot. Und Gemüse.» Beides wechselt die Besitzer. «Hast du sonst was, das du loswerden willst?», fragt David. «Ich hätte Erdbeeren und Himbeeren dabei.» David überlegt kurz. «Super, da machen wir Marmelade.» Dass er nicht nur Zutaten fürs Zubereiten vom Zmittag und Znacht bekommt, sondern auch noch Beerenobst für Konfi, freut ihn. «Das ist eine coole Sache für die Bewohnenden, gleichzeitig eine finanzielle Entlastung für uns.»
Alles wird genau dokumentiert
Ehe Jan weiterfährt, trägt er in der Tourenliste die drei C3-Kisten (so heissen die grauen Kunststoff-Stapelboxen, von denen 62 Stück in den Transporter passen) ein, die er gerade abgegeben hat. Die Tabelle dokumentiert, wie viele Kisten Jan bei welchem Spendenden eingeladen und wie viele er ausgeladen hat. Regelmässig kontrolliert er im Laufe des Tages die Laderaum-Temperatur. Aktuell: 7 Grad um 10.15 Uhr.
Zu seiner Tagestour war Jan gut zwei Stunden zuvor im Zentrallager Nordwestschweiz der «Schweizer Tafel» in Pratteln aufgebrochen. An der Laderampe waren er und acht «Zivi»-Kollegen sowie drei Freiwillige hin und her gewuselt, um die fünf bereitstehenden Lieferwagen ein erstes Mal zu beladen: Kaffee, Brot, Rucola-Salat, Peperoni, Champignons, Gurken, Spargel, Himbeeren und Bananen. Letztere trieben Jan Schweiss auf die Stirn, weil er sie kaum mehr in den Laderaum bekam. Als Erstes hatte er das Gelände der Heiliggeistkirche angesteuert und zehn Minuten vorher telefonisch sein Kommen bei der dortigen Stiftung Rheinleben angekündigt.
Als Jan auf dem Hof vorgefahren war, hatten ihn Bea, 53, und Markus, 48, bereits erwartet. Beide bekochen IV-Beziehende und Randständige, bieten diesen neben Mahlzeiten auch feste Tagesstrukturen. Markus ist fürs Abendessen zuständig, Bea für den Mittagstisch. Ein Vier-Gänge-Menü, das sie aus den von der «Schweizer Tafel» und anderen Organisationen gelieferten Lebensmitteln zaubern, kostet maximal acht Franken. Bea und Markus finden es «herausfordernd und spannend», morgens noch nicht zu wissen, was sie kochen werden, weil sie erst die Lieferung der «Schweizer Tafel» abwarten müssen. Mit ihren Kochgruppen legen sie jeweils fest, was letztlich aufgetischt wird.
Vom Überfluss zum Mangel
In der Schweiz lebten laut Bundesamt für Statistik im Jahr 2020 rund 722 000 Menschen unter der Armutsgrenze*. Gleichzeitig landen jährlich über zwei Millionen Tonnen Esswaren im Abfall. Allein die «Schweizer Tafel» verteilt täglich 16 Tonnen überschüssige, einwandfreie Lebensmittel an Gassenküchen, Obdachlosenheime, Frauenhäuser und andere Hilfswerke und bekämpft so Food Waste.
Projektleiter Nachhaltigkeit bei Coop.
Seit wann unterstützt Coop Organisationen wie die «Schweizer Tafel»?
Die Zusammenarbeit entstand 2005 durch das gemeinsame Ziel, einerseits Food Waste zu verhindern, andererseits noch geniessbare, aber nicht mehr verkaufbare Lebensmittel an Bedürftige zu spenden.
Und wie viele Lebensmittel werden so abgegeben?
Im vergangenen Jahr waren es 3242 Tonnen Lebensmittel. Das entspricht über 16 Millionen Mahlzeiten.
Welche Produkte zählen zu den Abgaben – und gibt es da einen «Renner»?
Gespendet werden alle Frischprodukte und haltbaren Artikel ausser Fertiggerichte sowie Fleisch und Fisch aus Offenverkauf. Dies aus gesetzlichen und lebensmittel–hygienischen Gründen. «Renner» gibts keine. Denn wir spenden, was anfällt, nicht was «nachgefragt» wird.
Können Sie sagen, wie hoch der Warenwert ist, der von Coop an diese Hilfsorganisationen abgegeben wird?
Darüber geben wir grundsätzlich keine Auskunft.
Werden heute mehr Lebensmittel abgegeben als zu Beginn im Jahr 2005?
In den letzten zehn Jahren hat sich das Volumen fast verdoppelt. Gemeinsam haben wir die Prozesse und Logistik, aber auch die interne Schulung so weit verbessert, dass viel mehr Läden ihre nicht mehr verkaufbaren Produkte an die Organisationen spenden können.
Wo alle willkommen sind
Vom nächsten Abnehmer, den Jan ansteuert, schwärmt er in höchsten Tönen. «Im Restaurant «du Cœur» beim Bahnhof gibts das beste Essen!» Erlaubt es die Zeit, macht er da gern Mittagspause. Auch sein Chef, Michele Hostettler, 53, Leiter Region Nordwestschweiz der «Schweizer Tafel», ist voll des Lobes. Was die Leiterin der Einrichtung auf die Beine gestellt habe, sei einmalig: Mittags geben sich Bankfachkräfte und Obdachlose die Klinke in die Hand, bezahlen, was sie möchten. Abends wandelt sich das «du Cœur» zum «Soup & Chill» – zu einer Suppenküche für Randständige und Drogenkonsumenten, die so eine warme Mahlzeit und Ruhe vom Beschaffungsstress fänden.
Die Gründerin des «du Cœur», Claudia Adrario de Roche, 67, ist eine damenhafte Erscheinung, sie hat stets ein Lächeln auf den Lippen. «Leider heisse ich nicht La Roche, dann hätte ich weniger finanzielle Probleme», scherzt sie. 2006 gründete die Sängerin, Schauspielerin, Archäologin und damalige Präsidentin des Vereins für Gassenarbeit Schwarzer Peter ihr «Restaurant ohne feste Preise, aber mit viel Herz».
*Im Jahr 2020 betrug die Armutsgrenze durchschnittlich 2279 Franken pro Monat für eine Einzelperson und 3963 Franken pro Monat für einen Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren.