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Russi und Collombin 50 Jahre nach Sapporo 1972

Bernhard Russi: «Roland war mein Turbo»

Vor 50 Jahren gewinnt Bernhard Russi in Sapporo Olympiagold in der Abfahrt – vor Roland Collombin. Für die Schweizer Illustrierte blicken die Ski-Legenden zurück auf die Feier, ihre unterschiedlichen Rollen und ihre Freundschaft.

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Bernhard Rusii und Roland Colombin, 2021, Ski Alpin, Olympische Winterspiele Sapporo 1972, SI 04/2022

Bernhard Russi (l.) und Roland Collombin vor dem Talmuseum Ursern in Andermatt, wo gerade die Ausstellung zu Sapporo 1972 zu sehen ist.

Remo Naegeli

Die ersten Olympischen Winterspiele in Asien, zehn Medaillen für die Schweiz: 50 Jahre ist es her seit Sapporo 1972. Nun sitzen sie da, zwei der Protagonisten von damals, Roland Collombin, 70, und Bernhard Russi, 73, und betrachten in der Ausstellung im Talmuseum Ursern in Andermatt UR die Erinnerungsstücke von damals: Ski, Renndress, Zeitschriften mit Informationen zu den Helden inklusive Oberschenkelumfang. Damals ist Collombin 20 und wird nach den Abfahrtstrainings aus dem Nichts zum Favoriten, was Russi, den Weltmeister, unter Druck setzt. Aber Russi hält dem stand, gewinnt Gold, Collombin Silber.

In den Jahren darauf duellieren sie sich weiter. Auch um die Herzen der Fans, die entweder dem anständigen, hübschen Deutschschweizer Russi gehörten oder dem wilden Welschen Collombin. Jener musste in Sapporo übrigens von Adolf Ogi, damals Technischer Direktor des Schweizerischen Skiverbands, nach einer Rauferei aus dem Gefängnis geholt werden. Ski-Legenden sind beide geworden. 

Bernhard Rusii und Roland Colombin, Ski Alpin, Olympische Winterspiele Sapporo 1972, SI 04/2022

Der totale Triumph: Schweizer Doppelsieg am japanischen Mount Eniwa in Chitose: Bernhard Russi (r.) und Roland Collombin lassen sich hochleben.

The Asahi Shimbun via Getty Images

Meine Herren, ich starte mit einer wenig charmanten Frage. Wie ist das, wenn Sie daran denken, dass Olympia in Sapporo bereits ein halbes Jahrhundert her ist?
Roland Collombin: Dann denke ich, dass bald alles zu Ende ist (lacht). In zehn Jahren bin ich achtzig! Es geht mir zurzeit aber sehr gut. Schauen wir, wie es weitergeht.
Bernhard Russi: Ich muss mich schon hie und da zwicken. Und sagen: War das alles nur ein Traum, oder ist das wahr?
Hört man die Zahl 50, klingt das nach einer Ewigkeit. Aber wenn der Gedanke an Sapporo zurückkommt, sind gewisse Sachen wie gestern.
Collombin: Es ist bizarr, an einige Dinge erinnere ich mich gar nicht mehr! Dass ich im Gefängnis war, ja, das schon. Aber an die Siegerehrung nicht mehr. Andere Erinnerungen sind sehr präzise, Sapporo nicht. 
Russi: Für mich ist zum Beispiel die Strecke noch sehr klar. Ich glaube, ich könnte sie im Kopf noch Meter für Meter nachfahren. Und wenn ich an die Eröffnungs- und die Medaillenzeremonien denke, habe ich jetzt noch Hühnerhaut. 

Sind Sie es nie leid, immer wieder über die alten Zeiten zu sprechen?
Collombin: Ich rede nicht so gerne über die Vergangenheit, tu es aber auch nicht oft. Ich bin nicht nostalgisch, ich denke, du auch nicht?
Russi: Nein, da sind wir beide ähnlich. Wir haben keine Medaillen zu Hause, keine Kugeln. 
Collombin: Wichtig ist, was man morgen tut! Was gemacht ist, ist gemacht, und das ist gut.

Bernhard Rusii und Roland Colombin, 2021, Ski Alpin, Olympische Winterspiele Sapporo 1972, SI 04/2022

Mit 73 immer noch topfit: Bernhard Russi

Remo Naegeli

«Ich schätze seine Liebenswürdigkeit. Er ist ein guter Typ mit einem guten Herzen»

Roland Collombin über Bernhard Russi

Sie haben mal gesagt, so verschieden seien Sie gar nicht gewesen, wie die Öffentlichkeit geglaubt habe. Waren Sie denn nun wilder oder ruhiger als angenommen? 
Collombin: Nun, er war viel wilder als ich, aber er hat gemogelt, hat weniger davon gezeigt. 
Russi (lacht): Ich glaube, dass es beides ist. Ich war etwas wilder, als die Medien wollten, und er war nicht so wild, wie man ihn gezeigt hat. Für die Journalisten waren diese beiden Extreme nötig für eine gute Geschichte. 
Collombin: Und die Leute wollten das auch. Lustig war: Der Nachbar meines Sohnes ist Jurassier. Einmal sagte seine Frau zu meinem Sohn: «Oh, du heisst Collombin! Ich mag ihn nicht, aber Russi war so ein Guter.» Da sagte mein Sohn: «Er ist mein Papa!» 
Russi: Aber ich glaube trotzdem: Wir haben uns wohlgefühlt in diesen Rollen.
Du in der Rolle des Verrückten und ich in der des Netten. 
Collombin: Jaja, auf jeden Fall. Und wir haben uns dann auch angepasst. Zum Beispiel sagten die Leute, dass ich vor dem Rennen etwas getrunken hätte. Ich habe nie versucht, das richtigzustellen, denn es war halt nun mal mein Ruf. 

Wie sieht heute ein normaler Tag in Ihrem Leben aus? 
Collombin: Ich arbeite noch, verkaufe Wein, habe ein Restaurant. Daneben fahre ich Ski, wandere im Sommer in den Bergen. Und im Winter mit Steigfellen. Nicht so ausgiebig wie er, aber eine kleine ruhige Stunde, wenn das Wetter schön ist. 
Russi: Hier sind wir ähnlich, wir sind beide Bergler. Oft gehe ich ganz alleine, oft mit den Fellen. Meine Frau mag es nicht so gerne, wenn ich ganz alleine unterwegs bin. Aber ich finde es fantastisch! Du hast dann wirklich Frieden. Daneben versuche ich, so wenig wie möglich zu machen, was mir nie gelingt. Mein Kompromiss: Ich nehme Einladungen an, sage aber, dass ich mich erst sechs Wochen davor definitiv entscheide. 
Collombin: Ich mache es ganz falsch. Ich sage immer Ja, und im letzten Moment denke ich: Ich habe gar keine Lust.

Bernhard Rusii und Roland Colombin, Ski Alpin, Olympische Winterspiele Sapporo 1972, SI 04/2022

1:51,43 Minuten dauert Bernhard Russis Fahrt zu Olympiagold. Er holt 64 Hundertstel auf Collombin raus.

The Asahi Shimbun via Getty Images

Sapporo waren die ersten Winterspiele in Asien. War das damals noch exotisch?
Collombin: Also ich fand das aussergewöhnlich mit meinen 20 Jahren. Japan, aber noch mehr Südamerika. Wir waren zum Beispiel auf dem Weg nach Chile ins Trainingslager eine Woche lang in Rio. Meine Kollegen waren damals höchstens mal in Genf oder Lausanne, und wir reisten um die Welt! 

Welche Vibes hatten die Spiele zu jener Zeit?
Russi: Wenn ich mit heute vergleiche, waren es Familienspiele. Wir waren alle vereint im Olympischen Dorf. Es gab wohl keinen Athleten, der woanders wohnte. 
Collombin: Aber von den Frauen waren wir getrennt. Ausser Slalomfahrer Jean-Noël Augert, dessen Freundin ebenfalls an den Spielen war. 
Russi: Stimmt, der hat sich mit einer Perücke verkleidet, damit er sie besuchen konnte. 
Collombin: Ja, die Spiele in Japan waren toll.

Bernhard Russi, wie haben Sie denn Ihren Olympiasieg gefeiert?
Russi: Am Abend des Rennens wollte ich meinen Vater im Hotel besuchen. Als ich dort war, stand er inmitten von 50 Japanern. Es gab fünf Fernseher im Raum, auf denen die Resultate gezeigt wurden. Und immer, wenn mein Lauf kam, haben sie mit meinem Vater angestossen. Er versuchte dann, ihnen zu erklären, dass ich dieser Mann sei, aber das hat sie nicht interessiert. Sie waren nur an meinem Vater interessiert. Danach bin ich mit «Söre» Sprecher bis sechs Uhr morgens quer durch alle Klubs der Stadt gezogen.

Bernhard Rusii und Roland Colombin, 2021, Ski Alpin, Olympische Winterspiele Sapporo 1972, SI 04/2022

Geht immer noch oft Ski fahren: Roland Collombin mit 70.

Remo Naegeli

«Er ist mit den Menschen, aber auch zu sich selbst ehrlich. Das finde ich fantastisch»

Bernhard Russi über Roland Collombin

Sie hatten beide Saisons, in denen Sie enorm viel gewonnen haben. War es leichter oder schwieriger, wenn ein Schweizer vor einem auf dem Podest stand?
Collombin: Ich wollte einfach der Schnellste sein. Aber man mochte es fast lieber, wenn ein Österreicher vorne war und kein Schweizer, denn dann war man immer noch der beste Schweizer. 
Russi: Ja, bei solchen Sachen muss man ehrlich sein. Aber es ist schwierig zu erklären, die Leute verstehen das nicht so gut. 
Collombin: Man ist die Schweizer Equipe, aber es ist immer noch ein Einzelsport.
Russi: Was ich oft sage: Ohne dich wäre meine Karriere weniger gut gewesen. Roland war mein Turbo. Das hat vor Sapporo angefangen, in Kitzbühel, plötzlich in den Trainings. Ich habe gespürt: Da passiert was. Ich musste mich anstrengen.

Bernhard Rusii und Roland Colombin, Ski Alpin, Olympische Winterspiele Sapporo 1972, SI 04/2022

Stolz: Collombin mit seiner Mutter Lydia und der Startnummer aus Sapporo. 

RDB/«Schweizer Illustrierte»

Nach der Karriere entstand zwischen Ihnen eine Freundschaft. Wie hat sich diese entwickelt?
Collombin: Nun, ich war immer nett zu ihm, weil ich ihm Wein verkaufen wollte (lacht). Nein, es stimmt, wir haben uns nach der Karriere besser kennengelernt.
Russi: Wenn die Wettkämpfe vorbei sind, wird man wieder zum Menschen und weiss, dass man vieles teilt. Ich kann ihn immer anrufen, egal wann. Und wenn er mir helfen kann, tut er das. 
Collombin (zeigt ein Bild, wie Russi ihn auf einer Alp besucht, wo er einen Sommer lang lebte): Ich möchte eine Geschichte erzählen. Im Wallis hatte ich während einer gewissen Zeit, in der ich ein bisschen Party gemacht hatte, einen bestimmten Ruf. Die Leute erzählten, dass ich finanzielle Probleme hätte. Ich habe damals die Rechnungen einfach nie aufgemacht, hatte Betreibungen, das geht schnell. Eines Tages erhielt ich einen Anruf von Bernhard. Er fragte mich, wie es mir gehe. Ich sagte: «Jaja, keine Sorge, es geht mir gut.» Er insistierte, und ich sagte: «Nein, es ist alles gut. Aber wenn ich Probleme habe, ist das Erste, was ich tu, dich anzurufen» (lacht). Es hat mich sehr gefreut, dass Bernhard das getan hat. 

Was unternehmen Sie zusammen?
Collombin: Wir sehen uns nicht oft, aber wir sind immer wieder an denselben Events eingeladen. Letztes Jahr zum Beispiel am Memorial Toni Sailer. Dann trinken wir ein Glas.
Russi: Und Golf haben wir dort auch gespielt, mit Franz Klammer und Hansi Hinterseer! 

Bernhard Rusii und Roland Colombin, 2021, Ski Alpin, Olympische Winterspiele Sapporo 1972, SI 04/2022

Nostalgisch sind beide nicht, aber beim Gespräch im Talmuseum Ursern werden alte Anekdoten lebendig.

Remo Naegeli

Roland Collombin, schauen Sie noch oft Ski?
Nicht jedes Rennen, aber immer wieder. Man bleibt Schweizer, und so ein Odermatt macht Freude. Wir haben eine tolle Equipe, auch mit Feuz, ich finde das interessant, schaue gern.

Bernhard Russi, die Olympiaabfahrt in Peking, die Sie gebaut haben, soll spektakulär sein. Was kann man erwarten?
Russi: Sie hat das Potenzial, eine grosse Abfahrt zu sein – wenn die Schneebedingungen stimmen, das Wetter und auch die Kurssetzung. Sie hat ein sehr steiles Stück, vier Möglichkeiten zu Sprüngen über 60, 70 Meter. Ein Nachteil ist, dass wir wegen Corona noch kein Rennen auf der Strecke hatten. Kurssetzer Hannes Trinkl wird deshalb wohl eher mit Blick auf die Sicherheit stecken.

Bernhard Rusii und Roland Colombin, Ski Alpin, Olympische Winterspiele Sapporo 1972, SI 04/2022

Riesiger Fan-Ansturm in Altdorf UR beim Empfang für Russi und Walter Tresch, der in Sapporo WM-Silber in der Kombination holte.

RDB/«Schweizer Illustrierte»

Sie haben viel Zeit in Asien verbracht fürs Streckenbauen in Japan, Südkorea und China. Was haben Sie für Erfahrungen gemacht?
Russi: Zuerst mal: Japan, Südkorea und China sind komplett verschieden. China war für mich am angenehmsten zum Arbeiten, weil es einen roten Faden gab. Vom ersten Tag an vor über sieben Jahren kommunizierte ich immer mit denselben Leuten, das gibt eine Kontinuität im Aufbau. Du erhältst alles, was du willst, aber sie hinterfragen alles, wollen wirklich das Optimale rausbringen. Aber damit sage ich nicht, dass ich China kenne, auch wenn ich 20-mal dort war. Wenn du diesen Job machst, hast du nicht mit dem normalen China zu tun. Das ist etwas ganz anderes. Ich komme am Flughafen an, das Auto steht dort, ich fahre ins Olympiadorf, kein Stau, nichts. Am kompliziertesten war Japan. Sie sagen ja, ja, ja, aber du weisst nie, woran du bist. 
Collombin: Wie als ich im Gefängnis war. Ich sagte: Ich bin Olympiasieger, und sie haben sich nur immer verbeugt (lacht)

Von Eva Breitenstein am 30. Januar 2022 - 12:04 Uhr