Florian Burkhardt sitzt am Tisch seiner kleinen, aber fein eingerichteten Studiowohnung in Bern. «Ohne den Balkon hätte ich wohl das vergangene Jahr nicht ausgehalten», sagt er. Es ist ein Minergiehaus, die Raumtemperatur steigt nie über 22 Grad. «Sobald die Sonne zu stark ist, gehen die Läden runter. Ich bin also noch etwas fremdbestimmt.» Er lacht, denn im letzten Jahr hat er sich aktiv damit beschäftigt, wieder selbstbestimmt Florian Burkhardt zu sein. Zu lange war er «Electroboy».
Das Pseudonym legte sich der 46-Jährige in den Nullerjahren als Partyveranstalter zu. 2014 wurde es durch den gleichnamigen und mehrfach preisgekrönten Dokumentarfilm über seine bewegte Lebens- und Familiengeschichte zu seiner Identität. Burkhardt, der aus beengten Verhältnissen auf der Suche nach Freiheit in die weite Welt hinauszieht und früh international Erfolge im Model-, Internet- und Partybusiness feiert und auch tief fällt, war fortan nur noch «Electroboy». «Ich war eine Show, eine Projektionsfigur», sagt er. «Nichts war gelogen, aber die Kontexte waren manchmal falsch, und irgendwann verselbstständigte sich die Dramaturgie, die ich auch selber jahrelang bediente.» Am Ende sei die Figur in einigem zu einer Slapstick-Nummer aus seiner eigenen psychischen Störung geworden – «und das ist für mich als Privatperson unangenehm geworden».
Nun gehts für ihn im Hier und Jetzt weiter. Soeben hat Florian Burkhardt sein erstes Album unter seinem bürgerlichen Namen veröffentlicht – «Backstage». Ein Ergebnis aus dem vergangenen Jahr, in dem er sich selbst «dekonstruiert» hat. «Ohne die Rolle des ‹Electroboys› ist so viel weggefallen, was mich zuvor beschäftigt hatte. Ich musste erst wieder herausfinden, was ich jetzt machen wollte.» Das kreative Ausprobieren – von Podcast über Blogs –führte ihn schliesslich zur akustischen Gitarre und zu einem Blatt Papier zurück. So wie er früher als Jugendlicher musizierte, damals im katholischen Lehrerseminar in Zug. Seine Stimme präsentiert der Singer-Songwriter auf seinem Mundartalbum «völlig ‹blutt›, ohne Technik», wie etwa im Song «Wenn alles wäg esch» oder in «Lueg üs mol a», in dem er dazu auffordert, die eigene Schönheit zu sehen. «Mich so zu hören, war total ungewohnt und auch mit Schamgefühl verbunden.»
«Ich bin älter, gezeichneter und beschädigter geworden – und das ist nicht negativ»
Dennoch hat Florian Burkhardt keine Angst, auch in der Öffentlichkeit ganz er selbst zu sein. Zwanzig Jahre hat er Psychopharmaka genommen, um seine Sozialphobie zu kontrollieren und zu verhindern, dass etwas Unkontrolliertes passiert. Bis eben Unkontrollierbares eintraf: Im Bus erlitt er eine Panikattacke, sass einfach nur auf dem Boden, konnte nicht aussteigen. «Da merkte ich erst, dass die Welt dadurch nicht untergeht. Das war extrem befreiend.» Und da war noch seine damalige Partnerschaft, der er sich ganz ungetrübt von Medikamenten hingeben wollte. Heute braucht er die Chemie nicht mehr.
Burkhardt hat den Wandel vom «Electroboy» zu Florian gemacht. «Ich bin älter, gezeichneter und beschädigter geworden – aber das ist nicht negativ. Ich bin weniger klar geformt als mit 16.» Und er ist weg von der Opferrolle, in die ihn Psychiater früh drängten, die ihn aber nie weitergebracht habe. «Ich wurde nach dem Unfalltod meines Bruders gezeugt, war ein Ersatzkind. Damals war für die Psychiater klar, dass ich Opfer der Situation und meiner Eltern war», sagt er. «Niemand hat mich selbst infrage gestellt.» Deshalb ist Burkhardt innerlich viel gereist, sodass er es nicht mehr äusserlich muss. Zog es ihn früher immer weg, wenn etwas nicht stimmte, sei er jetzt überraschenderweise in der Schweiz angekommen. «Ich habe genug erlebt.»
Mit 19 Jahren gründete er das erste Schweizer Snowboard-Magazin, «Independent», danach zog es ihn nach Hollywood. Durchgestartet ist er international jedoch nicht als Schauspieler, sondern als Model. Später wird er als Partyveranstalter namens «Electroboy» ausgezeichnet und wechselt in eine Werbeagentur. Als einer der Ersten spielt er Videos ins Internet – noch vor Youtube. «Dass ich Multimedia studierte und nicht bloss das Talent hatte, blieb im Dokfilm über mich unerwähnt. In Deutschland feierten sie mich denn auch als ‹Forrest Gump der Schweiz›, weil alles so erfolgreich schien», sagt er. Und was für ein Bild die Leute von ihm haben, merkte er erst recht, als er vor vier Jahren von Berlin nach Bern zog. «Jeder erwartete von mir, dass ich mit innovativen Ideen nur so um mich schiesse. Dabei hätte der Film auch ‹The biggest loser of Switzerland› heissen können.» Noch lange ist nicht alles erfolgreich, was er anfasst. Zum Beispiel seine Leidenschaft, die Musik. «Kommerziell bin ich als Sänger nicht besonders erfolgreich.» Doch das sei für ihn nicht so wichtig. «Hauptsache, ich bin kein Popfigürchen der Superlativen mehr.»
Florian Burkhardt setzt sich wieder. An diesem Tisch hat er seine Lieder aufgenommen. Denn eigentlich ist er einfach «ein Typ, der immer noch mega gerne kreativ ist und sein muss – mit allen Mitteln. Und je unmittelbarer, desto wohler fühle ich mich.» Florian Burkhardt ist die Person «Backstage» der Fassade von «Electroboy». Er lacht: «Aber bestimmt ist ‹Electroboy› für die breite Öffentlichkeit interessanter als Florian.»