Um genau 16.37 Uhr öffnet sich der rote Samtvorhang im Théâtre Libre in Paris. Auf der Bühne die Dorfmusik Ancienne Cécilia de Chermignon aus Crans-Montana VS. Dirigent Arsène Duc (59) gibt das Zeichen, die Blechinstrumente spielen die ersten Takte des «Palladio» von Karl Jenkins – ein Stück, das Ordnung und Harmonie symbolisieren soll. «Etwas schneller und ganz sec», hatte der Dirigent die Musikerinnen und Musiker in der Probe am Mittag angewiesen.
Nach dem Einsetzen aller Instrumente zum Hauptmotiv betritt das erste Model in einem vielfarbigen Perlenkleid den Saal. Das Defilee Herbst/Winter 2024/25 des Walliser Couturiers Kevin Germanier (32) beginnt! Die Models stöckeln auf hohen Plateaus in Schlangenlinie durch die Reihen des Theaters. Bereits zum vierten Mal präsentiert der Schweizer im offiziellen Kalender der Paris Fashion Week. Er ist Meister des Upcyclings, er rettet Reste von Stoff, Holz, Plastik und vielem mehr vor dem Wegwerfen und verwandelt sie in fröhlich-farbige Kreationen.
Die Brassband hat übergangslos das Stück «Stabat Mater» (ebenfalls von Jenkins) angestimmt, die Töne werden sanfter, im Saal erscheinen luftig-zarte Plisseekreationen. Im Stakkato gehts weiter, jetzt tragen die Models fedrig wippende Glitzerkleider. Ein letzter Durchlauf mit allen Modellen, die Musik steigert sich zum mächtigen Höhepunkt. Mit einem finalen Schwung seines Stocks beendet Dirigent Duc die Musik – und die Show.
11 Minuten und 18 Sekunden hat das Spektakel gedauert. Das Publikum scheint wie aus einer Trance zu erwachen und bricht in lauten Applaus und freudige Rufe aus. Duc verbeugt sich, das strahlende Lächeln auf seinem Gesicht zeigt die Erleichterung. Kevin huscht kurz in den Saal, macht nur eine Verbeugung und verschwindet gleich wieder.
«Ich hatte Tränen in den Augen», sagt der Walliser Regierungspräsident Christophe Darbellay (52) danach. Er ist zusammen mit seinem Regierungskollegen Mathias Reynard (36) nach Paris gereist. Das Wallis ist stolz auf seinen «Sohn», der sich in der knallharten Modeindustrie durchsetzt. Nach einem Förderpreis hat ihm der Kanton letztes Jahr mit dem Prix Rünzi den höchsten Kulturpreis verliehen. «Bei einem Glas Wein hat er mir damals gesagt, dass er bei einer seiner Shows die Dorfmusik Ancienne Cécilia einladen wolle. Für mich war klar, wenn das passiert, dann reisen wir mit», so Darbellay.
Mit zwei Cars aus dem Wallis
Und so starteten tags zuvor morgens um 6.30 Uhr zwei Busse mit über 100 aufgeregten Walliserinnen und Wallisern nach Paris. Nicht fehlen durfte dabei natürlich auch Kevins Familie – die Grossmutter, die Tanten und die vielen weiteren Strickerinnen, die von zu Hause aus für den Designer arbeiten. «Ah, notre Kevin», schwärmt Grossmutter Simone (85) mit feuchten Augen. «Wir sind so glücklich, dass er Erfolg hat und dass wir für ihn arbeiten dürfen.» Sie und ihre Schwestern Denise (86) Monique (83) und Marie-Thérèse (76) sind die treusten Fans.
Und sie scheuen keine Mühe! Was Kevin einer Modejournalistin bei einem Kleid als «un peu pacorabannish» (in Anlehnung an den stilprägenden 60er-Jahre-Designer Paco Rabanne) erklärt, bezeichnen sie als «oh, là, là, difficile, diese Arbeit». Sie hätten auf eine neue Art Perlen mit Wolle verbunden, wobei die Nadeln durch die Perlen geschoben und zwei Maschen gestrickt werden sollten. «Wir mussten uns zusammensetzen und gemeinsam üben», erzählt Denise.
Einfacher war das Strickkleid, das die Damen nach der Show an einer der Besucherinnen entdecken. «Es ist aus der letzten Kollektion», sagt Kam Hugh und will unbedingt mit den Frauen posieren, die die kleinen Wollstücke gestrickt haben. «Wir hatten noch Restwolle davon, gerade vor Kurzem habe ich daraus eine Decke gemacht», rapportiert Denise.
Französische Gesetze
Die Freude ist bei allen Beteiligten sichtbar. Sogar bei den jüngsten Musikerinnen und Musikern, die auf der Zielgeraden ausgebremst wurden: Sie hatten extra von der Schule freigenommen, um hier in Paris spielen zu können. Doch dann kam die Meldung eines Anwalts: Personen unter 18 Jahren dürfen nicht auftreten! Es war nicht die erste etatistische Hürde, die Kevin für seine Show nehmen musste. Bereits die Woche davor hatte es geheissen, die Dorfmusik dürfe nicht auftreten, da sie nicht bezahlt werde. «Ich habe dann einen Brief an die Organisatoren der Paris Fashion Week geschrieben und erklärt, dass die Ancienne Cécilia eine normale Dorfmusik ist und die Beteiligten nicht ausgebeutet werden», erklärt der Schweizer Botschafter Roberto Balzaretti, 59, lachend.
Der 14-jährige Lénaïc Morard war trotz des Auftrittsverbots zum Schluss versöhnt. «Wenn wir das verpasst hätten, wäre das saublöd gewesen.» Dass Kevin aus seinem Dorf komme, habe er erst durch die Netflix-Serie «Emily in Paris» entdeckt, in der Lily Collins ein Germanier-Kleid trägt. «Nicht schlecht, dass einer von uns es so weit gebracht hat», findet Lénaïc.
Während sich die Delegation langsam auf den Weg zum Empfang in der Schweizer Botschaft macht, beantwortet Kevin Germanier hinter der Bühne Fragen, gibt Interviews. Die Tage vor einer Show sind stressig, trotzdem habe er die Nacht davor geschlafen – «ein bisschen» zumindest. Ganz in Schwarz gekleidet und sehr zurückhaltend bleibt er den ganzen Tag die Ruhe selbst, überwacht, wos nötig ist, packt selber an. «Ich habe ein fantastisches Team», sagt er. Die 28 Modelle der Kollektion unter dem Titel «Les épineuses» (die Dornigen) hätten sie in zwei Monaten aus dem Boden gestampft. Im Dezember verhandelte er noch über Restposten mit dem Luxuskonzern LVMH, dann galt es, im Rekordtempo zu kreieren und Aufträge zu erteilen –unter anderem nach Chermignon zu seinen Tanten. Die Feder- und Perlenkleider habe er beibehalten, die Plissees und «Dornen»-Kleider sind neu dazugekommen. «Die feinen Glitzerfäden stammen aus der Floristik. Sie verlieren aber schnell die Farbe und werden weggeworfen», erklärt er. Von seinem Team werden sie neu eingefärbt und zu feenhaften Kreationen verarbeitet.
René Célestin, der seit Beginn die Shows von Germanier organisiert, ist voll des Lobes für den Schweizer: «Er hat alles, was es für den Erfolg braucht: Er ist freundlich, seriös, pünktlich und exakt. Mit seinem Prinzip des Upcyclings liegt er voll im Trend. Und er ist schweizerisch geblieben.» Eine Dorfmusik, nein, das sei ihm noch bei keiner Show begegnet. «Aber hey, wie die spielen – ganz hohe Schule! Sie schaffen eine einmalige Stimmung.»
Von Arsène Duc fällt die Spannung erst am Abend richtig ab. Er, der selber internationale und nationale Titel als Dirigent in seinem Palmarès hat, wollte nur eines: «Es muss alles klappen, wir wollen, dass alles genau so ist, wie Kevin es sich vorgestellt hat. Wir sind hier für ihn und verdanken ihm diesen einmaligen Auftritt.» Auftrag erfüllt! Das wusste Duc, als sich der Vorhang im Théatre Libre um 16.49 Uhr schloss.