Vorsichtig legt Elisabeth Baume-Schneider, 59, ihre Hand auf die Schulter der Frau vor ihr. «Ich habe auch Kinder. Das muss schrecklich gewesen sein», sagt die Bundesrätin. Wivine Kunda Vavedila, 44, nickt. «Ich hoffe, dass wir jetzt eine bessere Zukunft haben.» Die Juristin aus dem Kongo ist nach Griechenland geflohen. Zwei ihrer fünf Kinder sind gestorben. Im Athens Solidarity Center, in der Hauptstadt des Landes, erzählt sie von ihrer Flucht. Im Publikum sitzt auch Baume-Schneider, die Schweiz finanziert das Sozialhilfezentrum über drei Jahre hinweg mit 2,37 Millionen Franken. «Es braucht viel Mut, sich so verletzlich zu zeigen», sagt die Bundesrätin. «Es ist wichtig zu wissen, dass hinter jeder Flucht ein Schicksal steht.»
Die Justizministerin ist am Abend zuvor nach Griechenland geflogen. «Ich bin zum ersten Mal in diesem Land», sagt sie im Bundesratsjet kurz vor der Landung. Bei der Landebahn wartet bereits der Schweizer Botschafter. Stefan Estermann, 55, hat für sie ein Abendessen mit Vertreterinnen von internationalen Hilfswerken in seiner Residenz organisiert. Auch hier kommt Baume-Schneider mit dem Thema Flucht in Berührung. Das Essen kocht die Frau des Botschafters zusammen mit Zhanna Sushko. Die Ukrainerin ist nach Putins Angriff aus ihrer Heimat geflohen und arbeitet nun als Haushaltshilfe in der Schweizer Botschaft.
«Wenn wir erwarten, dass die griechischen Behörden die Grenzen zu Europa kontrollieren, müssen wir auch sicher sein, dass dies unter Einhaltung der Menschenrechte geschieht», begründet Elisabeth Baume-Schneider ihre Reise. «Es ist wichtig zu sehen, dass unser Geld effizient eingesetzt wird.» Bis 2026 unterstützt die Schweiz Griechenland im Migrationsbereich mit 40 Millionen Franken.
Nach dem Abendessen steigt die Bundesrätin eine Treppe hinunter ins «Bundesratszimmer». Ein kleiner Raum, spärlich und einfach eingerichtet. Hier übernachtet sie. «Bundesrat Ignazio Cassis hat letztes Jahr auch hier geschlafen», erzählt der Botschafter.
Am nächsten Tag fliegt die Bundesrätin von Athen nach Lesbos. Die türkische Grenze ist an gewissen Stellen nur zehn Kilometer entfernt. Bei Dämmerung sieht man die Lichter auf der anderen Seite des Meeres, an der Küste treibt ab und an noch eine alte Schwimmweste auf dem Wasser. Täglich versuchen Menschen mit dem Boot in die EU zu gelangen. Wenn sie nicht von der Küstenwache zurückgeschickt werden oder ertrinken, stranden sie in einem Flüchtlingslager. Die Bundesrätin besucht das Lager Mavrovouni. Es wurde in nur wenigen Tagen aufgebaut, nachdem das Elendslager Moria vor drei Jahren abgebrannt war. Wo früher Zelte standen, befinden sich heute Container. Über 4700 Menschen leben hier. Die Schweiz hat das Camp mit medizinischer Ausrüstung und dem Aufbau der Trinkwasserversorgung unterstützt.
Seit rund einem Jahr steht die SP-Bundesrätin dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement vor, und genau so lange steht sie in der Kritik. Ihre Asylpolitik sei unkoordiniert, von Chaos ist die Rede. «Wir rechnen für dieses Jahr mit 30 000 Asylsuchenden. Ja, wir stehen unter Druck. Aber das ist kein Chaos», sagt Baume-Schneider. «Alle haben ein Dach über dem Kopf. Unser System funktioniert.» Im Tessin ist die Lage angespannt. Derzeit leben in den beiden Asylzentren Chiasso und Pasture etwa 600 Flüchtlinge. Pro Tag gibts hier im Schnitt zwei Polizeieinsätze. «Ich verstehe, wenn jemand, der in der Nähe eines Asylzentrums lebt, es schwierig findet, wenn immer wieder die Scheibe des Autos eingeschlagen ist», sagt sie. «Aber ich kann nicht mit der Angst arbeiten, ich muss mit der Realität arbeiten. Und es ist nun mal Realität, dass Menschen flüchten und Schutz suchen.»
In Zürich werden seit vergangener Woche 24-Stunden-Verfahren für Flüchtlinge aus Marokko, Algerien, Tunesien und Libyen getestet. «Wer keinen Schutz benötigt, soll die Schweiz rasch wieder verlassen», sagt die Bundesrätin dazu. Ob sie mit diesem Turbogang abschrecken will? «Falls das Verfahren dazu führt, dass Personen ohne Aussicht auf Asyl gar kein Gesuch stellen, würde das unser Asylsystem entlasten.» Ob es auch eine Antwort ist auf die Kritik, die Asylministerin mache nichts? Immer wieder heisst es, die Jurassierin sei keine starke Figur im Bundesrat, habe wenig Einfluss. «Diese Kritik höre ich in der Romandie weniger als in der Deutschschweiz», sagt sie dazu. «Sie kommt von Menschen, die mich nicht kennen. Wer mich kennt, weiss es besser.»
Auf der Insel Lesbos besucht Elisabeth Baume-Schneider ein Frauenhaus in der Stadt Mytilini. Das Bashira Centre hat die Zürcherin Raquel Herzog, 60, gegründet. Täglich suchen 60 geflüchtete Frauen und Kinder das Haus auf. Hier können sie sich vom Stress im Flüchtlingscamp erholen, mit ihren Kindern spielen oder einfach mal eine abschliessbare Toilette benützen.
Baume-Schneider kam das erste Mal als junges Mädchen auf dem Bauernhof ihrer Eltern in Les Bois JU mit Migranten in Kontakt. «Ich konnte nicht verstehen, dass Saisonniers bei uns arbeiten, sie aber ihre Familien nicht mitnehmen dürfen», sagt sie. «Meine Eltern waren sehr gläubig, wir haben immer mit den Migranten gemeinsam Weihnachten gefeiert.»
Im Frauenhaus auf Lesbos sitzt Baume-Schneider eine Stunde mit fünf Frauen zusammen. Eine davon, Roqia, floh alleine aus Afghanistan mit ihren drei Kindern. In der Schweiz löste die Bundesrätin Kritik aus, als das Staatssekretariat für Migration beschloss, dass vorläufig aufgenommene Frauen und Mädchen aus Afghanistan Asyl in der Schweiz gewährt werden solle. «Diese Frauen haben Anrecht auf Schutz. Das ist unser Gesetz», sagt Baume-Schneider. Ob sie nicht befürchte, dass die Frauen mit dem Familiennachzug ihre Ehemänner in die Schweiz holen? «Der Familiennachzug ist in unserem Asylgesetz vorgesehen.»
In Lesbos verabschiedet sich die Bundesrätin von den Frauen und sagt: «Danke für euren Mut, eure Geschichten zu erzählen.»