Vor zwölf Jahren standen sie schon mal hier, vor dem Haus des Sports in Ittigen bei Bern. Fabian Cancellara ist eben Olympiasieger im Zeitfahren geworden und kommt in einer Kutsche zum Empfang. Und Marc Hirschi, damals zehn, steht in der Menge und wartet darauf, ein Autogramm seines Idols zu holen.
Und heute? Kommt Hirschi vom Mittagessen mit dem Gemeindepräsidenten ins Büro von Cancellara. Empfänge gibt es während der Corona-Pandemie keine, ansonsten hätten sicher auch ein paar Kinder auf seine Autogramme gewartet. Denn der 22-Jährige hat die Radsportwelt innerhalb weniger Wochen im Sturm erobert. Und wie! Etappensieg an der Tour de France, Sieg beim Klassiker Flèche Wallonne, WM-Bronze. Immer wieder hat er angegriffen, mutig, bis zur Ziellinie kämpfend, scheiterte manchmal auch knapp. Die Fans lieben solche Spektakelfahrer, und die anderen Profis erweisen Hirschi den Respekt: «Das halbe Feld hat mir gratuliert: Fahrer wie Peter Sagan, zu denen ich aufschaue.»
«Fabian lässt mich meine eigenen Erfahrungen machen. Aber er ist da, wenn ich eine Frage habe»
Marc Hirschi
Und auch Fabian Cancellara, 39, das erste und grösste Idol Hirschis. Er sagt: «Für mich ist es ein Privileg, ihn begleiten zu dürfen, diesen Weg mit ihm zu gehen.» Denn der hochdekorierte Ex-Radprofi ist seit 2019 Hirschis Manager. Die Zusammenarbeit hat sich ganz natürlich entwickelt: Beide wohnen im Berner Vorort Ittigen, wurden auch schon gemeinsam für Erfolge geehrt – 2016, als Hirschi Junioren-Weltmeister auf der Bahn und Cancellara Olympiasieger wurde. Da nahm der Ältere den Jüngeren – 17 Jahre trennen die beiden – zum ersten Mal so richtig wahr.
Die Zusammenarbeit basiert auf beidseitigem Vertrauen, weshalb es wichtig ist, sich gut zu kennen. «Ich möchte wissen: Was ist ihm wichtig, was nicht? Mich reizt die Person, nicht der Athlet. Ich will ihn weiterbringen, ihm etwas weitergeben», so Cancellara. Hirschi sagt von sich, dass er ohnehin etwas länger brauche, bis er zu jemandem Vertrauen fasse. Und bei seinem Manager – oder besser gesagt Mentor – kommt hinzu, dass dieser eben immer noch sein Vorbild sei. Darum ist da noch eine kleine Hemmschwelle vorhanden. Cancellara kennt das: Früher war er nervös, wenn er mit Eddy Merckx reden durfte, diesem Monument des Radsports, heute ist das normal. Und so werden sich auch die beiden Berner besser kennenlernen und verstehen, wie der andere tickt.
«Für mich ist es ein Privileg, Marc auf seinem Weg begleiten zu dürfen. Ich will ihm etwas mitgeben»
Fabian Cancellara
Cancellara möchte für Hirschis Fragen da sein, ihm aber nicht permanent und ungefragt Ratschläge geben. «Er lässt mich meine eigenen Erfahrungen machen», sagt der U23-Weltmeister von 2019. Zum Beispiel ist Hirschi wichtig, dass er sich nicht so früh im Voraus mit einem Rennen beschäftigt, nicht 24 Stunden nur ans Velo denkt.
Bei einem Telefoninterview drei Tage vor der WM, wo das ganze Schweizer Team für den Youngster fuhr, sagt Hirschi: «Ich habe mich noch gar nicht so mit der Taktik auseinandergesetzt, nehme das locker.» Er sagt das ohne eine Spur Überheblichkeit, in seiner ruhigen Art, mit wenigen, aber wohlüberlegten Worten. Im Gefühl zu wissen, was am besten für ihn ist. «Er ist ein kleiner Bad Boy im guten Sinne», sagt Fäbu lachend dazu.
Er ist eher das Gegenteil: Cancellara redet gerne und ausführlich. Vergleicht man die beiden in Hirschis Alter, war Cancellara an einem anderen Punkt im Leben, ging früh ins Ausland, wohnte bereits mit seiner heutigen Frau Stefanie zusammen. Als er seine erste Tour-de-France-Etappe gewann, den Prolog 2004, war er nur ein Jahr älter als Hirschi. Und er erinnert sich noch daran, wie irritiert Lance Armstrong war, dass ihn dieser junge Schweizer schlug.
Marc Hirschi wächst mit einem radsportbegeisterten Vater auf, der ihm viel beibringt. Für seine Generation sind technische Trainingshilfen wie Wattmessungen, Pedaldrehungsmessungen oder Trainingsanalyse völlig normal – Cancellara hatte damals bloss eine Pulsuhr. Auf die Wissenschaft allein verlässt sich Hirschi aber nicht: Er lernt auch früh, den Gegner zu beobachten und zu lesen, er liebt schon als Kind eine aktive Fahrweise, und instinktiv weiss er, genauso wie Cancellara, wann der richtige Zeitpunkt ist für einen Angriff. Heute schickt Hirschi die Daten seinem Trainer, beachtet sie aber sonst nicht weiter. «Ich habe jetzt das Vertrauen, dass es gut so ist, wie ich es mache.»
Seine Resultate unterstützen dies. Und sie begeistern die Fans. Kinder haben ihm Hirsche gebastelt, Frauen die heutige Version von Liebesbriefen geschickt – Instagram-Nachrichten. Ist er denn noch zu haben? «Das ist Privatsache», sagt er und grinst. Und auch Cancellaras Tochter Giuliana, 14, fragt nach ihm. Sie freut sich, dass sich nach Papas Rücktritt 2016 wieder diese Spannung aufbaut, wenn zu Hause ein Velorennen im TV läuft. Und fragt, wie er denn so sei, dieser Marc.
Ein ganz normaler 22-Jähriger eben. Der sich nun in der Nebensaison darauf freut, auszuschlafen und Freunde zu treffen, bis es wieder mit dem Training losgeht. Und der den Plan hat, diesen Winter auszuziehen. Um dann nächstes Jahr seinen Siegeszug auf dem Velo fortzusetzen.