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  4. Christiane Brunner: Wegbereiterin für Frauen in der Politik
Mutter Courage

Hommage an Christiane Brunner

Christiane Brunner hat die Schweiz verändert, wie es keiner Frau zuvor ­gelungen ist. Die Bundesrätin der Herzen war Kopf des ersten Frauenstreiks und geht als Ikone in die ­Geschichte ein. Sie ist mit 78 Jahren gestorben.

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<p>Gleiche Chancen, gleiche Rechte, gleicher Lohn – Frauen gehört die Hälfte der Macht: Das forderte Christiane Brunner 1991, im Jahr des Frauenstreiks.</p>

Gleiche Chancen, gleiche Rechte, gleicher Lohn – Frauen gehört die Hälfte der Macht: Das forderte Christiane Brunner 1991, im Jahr des Frauenstreiks.

Keystone

Ich bin eine ganz normale Frau», sagte Christiane Brunner, als sie 1993 von ihrer Fraktion zur Bundesratskandidatin nominiert wurde. Sie konnte nicht ahnen, dass genau das ihr zum Verhängnis werden würde. Eine «normale Frau» war den Herren im Parlament suspekt, eine «normale Frau» sollte nicht als erst zweites weibliches Wesen ins höchste politische Gremium gewählt werden.

46-jährig war die Genferin damals. Die Anwältin und Gewerkschafterin war geschieden, lebte mit ihrer sechsköpfigen Patchworkfamilie in einer Mietwohnung, rauchte, trank gern ein Glas Wein (oder einen Underberg), war lediglich 1,59 Meter gross, stammte aus einer Arbeiterfamilie, sammelte Comics und hatte abgetrieben. Sie war immer berufstätig, wollte nie von einem Mann abhängig sein.

Eine Zumutung für die über 200 Männer, die damals in der 246-köpfigen Bundesversammlung das Sagen hatten. «Normal» erschien ihnen dieser Lebenslauf nicht. Sie wählten kurz und schnurz den Neuenburger Francis Matthey. Die Frauen im Saal brachen in Tränen aus, standen unter Schock: Die patriarchale Überheblichkeit der Kollegen war ihnen zwar gut bekannt, aber dass man eine der ihren in diesem Ausmass demütigen würde, hatten sie nicht für möglich gehalten.

Mit grosser Würde habe Brunner diese Nichtwahl zur Kenntnis genommen, betonte die damalige Fraktionschefin Ursula Mauch. Die Fraktion zwang Matthey, die Wahl auszuschlagen. Brunner sollte eine Woche danach eine zweite Chance bekommen. Es wurde zu einer Woche der Frauenproteste, wie sie die Schweiz vorher nicht gesehen hatte. Denn die Frauen im Land fühlten sich der «normalen Frau» sehr wohl verbunden – sie war eine der ihren, kein Produkt politischen Kalküls, keine sandgestrahlte Karrieristin, keine, die sich andern überlegen fühlte. Zehntausende gingen für sie auf die Strasse. Brunner musste sie nicht rufen, sie kamen ihr von sich aus in Scharen zu Hilfe. Was man ihr angetan hatte, hatte man jeder Einzelnen von ihnen angetan.

<p>Auf Händen getragen: Christiane Brunner im Jahr 1993 mit den Söhnen Thanh, Sylvain, Pierre-Alain, Alexandre und Gerald sowie Ehemann Jean (Mitte).</p>

Auf Händen getragen: Christiane Brunner im Jahr 1993 mit den Söhnen Thanh, Sylvain, Pierre-Alain, Alexandre und Gerald sowie Ehemann Jean (Mitte).

Dölf Preisig

Bereits zwei Jahre zuvor war Christiane Brunner zusammen mit ihren Uhrmacherfreundinnen, die sie als Gewerkschafterin vertrat, zur lustvollen Erneuerin der Frauenbewegung geworden. Sie war Kopf des Frauenstreiks, der weltweit für Schlagzeilen sorgte. «Wenn Frau will, steht alles still» lautete der Slogan, die Genferin rief die Geschlechtsgenossinnen auf, am 14. Juni 1991 die Arbeit niederzulegen. Es war der 20. Jahrestag der Einführung des Frauenstimmrechts, und der erlahmte Fortschritt sollte neuen Elan erhalten.

«Es vergeht kaum eine Woche, in der ich in meiner Post nicht mindestens einen Brief von einer Frau vorfinde, die mich um Rat oder um Hilfe bittet. Oft geht es um Probleme im sozialen Bereich, etwa um Rentenansprüche beim Tod des Partners oder um Alimente im Falle einer Scheidung», erzählte sie Jahre danach. Sie hatte sich im kollektiven Gedächtnis als die Frau eingebrannt, die für andere Frauen einsteht, sich kümmert, Anteil nimmt.

Anstelle von Christiane Brunner wurde 1993 schliesslich Ruth Dreifuss gewählt. Die vermeintlich Ausgebootete wurde Ständerätin, Co-Gewerkschaftspräsidentin, SP-Präsidentin. Ihr Erbe ist der «Brunner-Effekt», der in den Jahren danach die Frauenanteile in den Parlamenten teilweise verdoppelte.

1999 starb ihr Sohn Gerald an Darmkrebs, 2007 erkrankte sie an einer Hirnhautentzündung und kämpfte mit den Folgen. 2008 zog sie sich aus der Politik zurück. 2021 starb Ehemann Jean Queloz. Die letzten Jahre verbrachte sie in ihrem Chalet in Le Solliat VD. Es war stets ihr Rückzugsort in turbulenten Zeiten, dort sammelte sie Pilze, kochte, machte ein. Wie eine «ganz normale Frau» halt.

MR
Monique RyserMehr erfahren
Von Monique Ryser am 28. April 2025 - 06:00 Uhr