Die bodentiefen Fenster geben den Blick frei auf das Geschäftsviertel Maslak. Kein Hügel verhindert die Sicht zum Horizont. «Ich habe das Gefühl, ich lebe im Unendlichen», sagt Ezgi Cinar. Die Zürcher Designerin ist vor einem Jahr, kurz vor dem Lockdown, in das Industriequartier von Istanbul gezogen, in den 36. Stock einer Residenz. «Hier kann ich als Frau gut alleine wohnen. Ich bin nicht mit vielen Nachbarsgesprächen konfrontiert, lebe anonym, das gefällt mir. Die Türken kennen sonst ihre ganze Nachbarschaft.»
Wenn Ezgi Cinar, 42, nach einem intensiven Arbeitstag mit viel Verkehr und Besuchen in ihren drei Ateliers (je eines für ihre Ready-to-wear-, Leder- und Active-Wear-Kollektionen) die 120 Quadratmeter grosse Mietwohnung betritt, will sie vor allem eins: «Dass es sauber ist und fein schmöckt.» Nach dem Duft Istanbul von Atelier Rebul ist die Schweizerin mit türkischen Wurzeln süchtig, ihre Besucher bekommen stets eine Kerze des holzig-rauchigen, eher männlichen Dufts geschenkt. «Und ich brauche viel Licht, damit ich mich frei fühlen kann.»
Wenn die 174 Zentimeter grosse Unternehmerin sich an ein Fenster lehnt, «passen locker noch eineinhalb Ezgis obendrauf», beschreibt sie die Höhe ihrer Räume. Diese erlauben ihr eine dunkle, aber ruhige Einrichtung. «Ich mag es nicht, wenn zu viel herumsteht, will keine Staubfänger. Das ist wichtig für meine innere Ruhe.» Denn in ihrer Wohnung entstehen ihre Kreationen, sieben Tage die Woche arbeitet sie, wobei längst nicht mehr bis Mitternacht. «Ich habe herausgefunden, dass es der Effizienz nicht dient.»
Nur wegen ihres Berufs ist Ezgi Cinar in die 15-Millionen-Metropole gezogen – «sonst gibt es keinen Grund. Ich liebe ‹Züri›, ich liebe die Schweiz!» Dort ist sie seit ihrem neunten Lebensjahr zu Hause – zuvor lebte sie in Libyen – und hat weiterhin ihren festen Wohnsitz. Und dort lebt auch ihre 18-jährige Tochter mit einer Kollegin. Doch wenn es um die perfekten Materialien (Stoffe, Spitze, Leder bis hin zur Wolle) und die idealen Produktionsstätten für ihre Kollektionen geht, ist Istanbul schlicht unschlagbar. «Hier kann ich viel schneller auf Trends oder aktuell auf die Krise reagieren.»
Als die Stofflieferung wegen Corona in der ganzen Branche knapp wurde, begann sie kurzerhand ihre eigenen Stoffe herzustellen. «Wo sonst ist das möglich? Das ist der grosse Vorteil der Türkei», sagt Cinar. «Und eine solche Wohnung könnte ich mir natürlich niemals am Zürcher Paradeplatz leisten.» Auch nicht den Personal Trainer. Seit zwei Jahren geht Ezgi Cinar fast täglich wegen ihres Rückens eineinhalb Stunden ins Training. Im 30. Stock hat es einen Fitnessraum für die Residenten. «Megadünn war ich schon immer, aber seit ich trainiere, habe ich immerhin einen Po, wenn ich Lederhosen anziehe. Es sieht viel besser aus.»
Die Leidenschaft für Sport hat Ezgi Cinar auch zu ihrer ersten Active-Wear-Kollektion (Ende März auf www.ezgicinar.com oder ab Juli international erhältlich) inspiriert. Anders als bei ihrer Einrichtung dominieren hier Farben: Neongelb, Lila bis Gold. «Mir haben Gym-Outfits gefehlt, die ich mühelos in meinen Alltag integrieren und mit denen ich etwa auch direkt zum Kaffee rausgehen kann.» Benannt hat sie die einzelnen Stücke nach Bond-Girls, «damit ich mir die Namen einfacher merken kann». Der goldene Ganzkörperbody heisst Pussy Galore, der Mantel in Rosa métallisé Octopussy sowie das Modell in Grau Swann.
Bond-Girl-Darstellerin Halle Berry ihrerseits trug bereits eine Kreation von Ezgi Cinar, genau wie Lady Gaga, Madonna oder Katy Perry. «PR-technisch ist es mir wichtig, und ich fühle mich geehrt, aber ich bin jeweils auch froh, wenn die intensive Costume-Made-Arbeit vorbei ist.» Ezgi Cinar hat ihren kreativen Rhythmus angepasst: Statt nur zwei Kollektionen pro Jahr, «die ich dann für Monate mit mir rumschleppe und die mich zu nerven beginnen», kreiert sie nun lieber viermal pro Jahr sogenannte Capsule-Kollektionen, die nur bis zehn Kreationen enthalten. Der Kreativität von Ezgi Cinar ist wohl in ihrer Kapsel im 36. Stock mit Endlos-Ausblick keine Grenze gesetzt.