Endlich gehts wieder los! Nach eineinhalbjähriger Rennpause startete Daniela Ryf Mitte März am Halb-Ironman in Dubai. Sie gewinnt – mit Streckenrekord. Alles beim Alten bei der Triathletin, die ihren Sport seit Jahren dominiert? Der Schein trügt. Im Leben der 33-jährigen Solothurnerin ist so ziemlich alles anders als vor der Pandemie: «Ich habe vieles hinterfragt. Ich musste wohl durch eine Krise, damit ich keine Angst mehr hatte vor Veränderungen.»
Daniela Ryf, sind Sie glücklich?
Ich habe mir darüber viele Gedanken gemacht. Ich habe gar eine Liste geschrieben mit Dingen, die mich glücklich machen. Etwa, wenn sich mein Göttibub über ein Geschenk von mir freut (lacht). Ich bin glücklich, wenn ich nicht versuche, glücklich zu sein. Im Moment bin ich total zufrieden.
Macht Erfolg Sie nicht glücklich?
Mein Erfolg brachte mir Erfüllung: Er hat meine Träume und Ziele verwirklicht. Er hat mir gezeigt, was ich kann. Ein wunderschönes Gefühl. Glücklich macht mich der Erfolg allein aber nicht mehr.
Wann haben Sie das festgestellt?
Das war ein schleichender Prozess. Ich merkte nach und nach, dass mir der grosse Druck in den letzten Jahren etwas die Freude genommen hat.
Welche Rolle spielte die Pandemie?
Zu Beginn kamen mir der Lockdown und die Absage der ersten Rennen fast gelegen. Ich hatte damals den Fuss verletzt und konnte eh keine Lauftrainings machen. Im ersten Moment habe ich auch die Wettkämpfe nicht vermisst.
Waren Sie gar froh, verletzt zu sein?
Nein. Ich habe weitertrainiert, konnte nicht aus diesem Hamsterrad ausbrechen. Als die WM in Kona verschoben und dann abgesagt wurde, hat mir das schon den Boden unter den Füssen weggezogen. Die Pandemie hat mir schonungslos aufgezeigt, dass ich nicht viel in meinem Leben habe, wenn der Sport wegbricht. Phasenweise lebte ich ein recht eintöniges Leben. Dreimal Training am Tag, schlafen, essen. Ich habe zum Glück enge Freunde und eine super Familie. Doch nichts, was nur meins ist. Mein Ding. Dafür war auch die Angst weg, Veränderungen zu wagen. Denn angefangen hat der Prozess schon früher.
Als Sie auf Hawaii 2019 das erste Mal in fünf Jahren nicht gewannen?
Nein. Diese Niederlage hat nicht viel ausgelöst, da ich wegen Magenproblemen fast ausser Gefecht war. Auch der Druck blieb. Ich fühlte mich nach wie vor als Gejagte. Wenn ich zurückblicke, war der Sieg 2018 der Beginn meines Hinterfragens.
Es ist «das verrückteste Rennen» ihrer Karriere: Kurz vor dem Start auf Hawaii wird Ryf von einer Qualle gestochen. Sie leidet unter extremen Schmerzen. Aufgeben ist keine Option. Am Ende ist es wie die drei Jahre zuvor: Ryf überflügelt alle und wird Weltmeisterin. «Vielleicht hat mir die Qualle Superpower gegeben», witzelt sie im Ziel. Die schier unglaubliche Leistung wird für Ryf in der Folge aber auch zum Fluch. Dazu trägt ihre Rolle in der Öffentlichkeit bei. «Ich wurde oft gefragt: Was willst du noch? Wie kannst du das toppen?» Durch solche Fragen haben sich diese Themen wie Samen in ihrem Kopf festgepflanzt: «War das die beste Leistung, die ich bringen, die beste Geschichte, die ich je schreiben werde?»
Haben Sie Antworten gefunden?
Ja. Ich habe mich gefragt: Wo will ich in fünf Jahren sein? Es befriedigt mich nicht mehr, nur Rennen zu gewinnen. Nach der Zeit auf der Kurzdistanz und den Jahren im Ironman, in denen ich dem Sport alles unterordnete, sehe ich das Kommende als dritte Karriere an.
Die Veränderungen für den nächsten Lebensabschnitt sind einschneidend. Ryf entscheidet im Herbst 2020, ihren Bachelor in Lebensmitteltechnologie nachzuholen. Zwei Module und die Arbeit fehlen noch. Typisch Ryf: Wenn sie sich etwas in den Kopf setzt, muss es schnell gehen. Mitte Dezember gibt sie ihre Bachelor-Arbeit ab, im Januar besteht sie die Prüfungen. Auch heute ist sie nicht mehr nur als Profisportlerin unterwegs. Sie absolviert eine Weiterbildung in Neuropsychologie. Ihr Ziel: der EMBA in Wirtschaftspsychologie.
Warum dieser Richtungswechsel?
Unser Gehirn hat mich schon immer fasziniert. Was passiert, wenn wir motiviert sind? Welcher Stoff wird bei Freude oder Trauer ausgeschüttet? Mein Interesse hat auch einen traurigen Hintergrund: Mein Vater ist vergangenes Jahr dreimal knapp dem Tod entkommen. Er wird für immer ein Pflegefall sein, muss alles neu lernen: Essen, Sprechen. Das hat mir gezeigt, wie lernfähig der Mensch ist. Dieses Wissen anzueignen, fasziniert mich und gibt mir Abwechslung und zusätzliche Motivation.
Sie haben schon oft gesagt, wie wichtig Ihnen die Familie ist. Möchten Sie bald eine eigene gründen?
Auch darüber habe ich nachgedacht. Viele Freunde haben nun Kinder. Und ich bin in einem Alter, wo man als Frau oft danach gefragt wird …
Stört Sie das?
Es stört mich, dass unsere Gesellschaft stets alle in eine Schublade stecken und alles mit einem Label versehen will.
«Ironlady», «Maschine», «Die Unantastbare». Welches Label nervt?
Ich weiss, dass ich nicht unschuldig bin an diesen Übernamen (lacht). Ich habe diese ehrgeizige, strenge Seite, bin im Training hart zu mir. Doch es zeigt eben nur eine Facette. Es ist wohl so, dass wir uns besser zurechtfinden, wenn wir alles zuordnen können. Dass uns dieses Schubladisieren einen gewissen Halt gibt. Doch ich möchte frei von Konventionen leben. Deshalb lasse ich auch die Familienfrage offen. Und baue mir gerade in meiner Heimatregion Günsberg ein Haus – als Single entgegen allen gesellschaftlichen Normen.
«Ich möchte frei von Konventionen leben. Deshalb lasse ich auch die Familienfrage offen»
Ryf, die gesprächig ist, was ihre Karriere und gesellschaftliche Themen angeht, hält private Beziehungen stets aus der Öffentlichkeit raus. Das wird sie auch in Zukunft so handhaben. «Um meine liebsten Menschen zu schützen.» Ein sehr persönliches Erlebnis möchte sie nun allerdings teilen: «Ich war auch schon in eine Frau verliebt.»
Wie hat sich das angefühlt?
Erst mal war ich überrascht. Denn ich habe zuvor nur Männer geliebt. Ich habe die Liebe und somit auch ein Stück weit mich selber neu entdeckt.
Warum reden Sie darüber?
Ich war hin- und hergerissen. Eigentlich sollte es kein Thema sein, wen man liebt. Doch ich bin direkt und ehrlich, will mich nicht verstecken. Zudem möchte ich meine Vorbildfunktion wahrnehmen und sagen: leben und leben lassen. Lieben und lieben lassen.
Wie hat Ihr Umfeld auf Ihr Outing reagiert?
Dies ist für mich kein Outing. Denn das impliziert doch, dass man irgendwie anders ist. Alle haben damals auf die Neuigkeit sehr positiv und unterstützend reagiert.
Sind Sie also bisexuell?
Ich musste selber googeln, wie man das nennt, wenn man sich unabhängig des Geschlechts in einen Menschen verliebt. Doch da sind wir wieder beim Thema: Wieso muss man dem überhaupt einen Namen geben? Ich möchte das nicht labeln. Ich kann mich in Männer und Frauen verlieben, na und?
Ihr Hauptsponsor ist das Team Bahrain. In Bahrain haben Menschen, welche wie Sie lieben, wenig Rechte. Fürchten Sie Konsequenzen?
Ich wäre sehr enttäuscht, wenn meine Offenheit bei irgendeinem Partner negative Folgen hätte. Für mich ist das Wichtigste, dass ich so sein kann, wie ich bin. Offen, ehrlich, frei.
Die neue Freiheit zieht sich durch alle Bereiche. Mit dem Studium stehen Ryf später alle Türen im Berufsleben offen. Auch im Triathlon hat sie Freiheit gewonnen. Sie übernimmt nun noch mehr Verantwortung und arbeitet ohne ihren langjährigen Trainer Brett Sutton. Ihr neuer Coach: sie selber.
Ist dies ein Akt der Emanzipation?
Durchaus. Brett und ich haben uns nicht zerstritten. Und ich bin ihm ewig dankbar. Doch ich wollte mich weiterentwickeln. Nach acht Jahren mit Brett möchte ich das Gelernte selber umsetzen.
Ist Ihr Feuer für den Sport langsam am Erlöschen?
Ganz im Gegenteil. In Dubai merkte ichs wieder: Mein Feuer brennt wie eh und je. Doch fast hätte ich mich daran verbrannt. Ich will weiterhin auf allen Ebenen Erfolg haben. Aber das Gleichgewicht muss stimmen – so wie jetzt.
Dieser Artikel wurde das erste Mal publiziert am 23. April 2021.