Flach auf dem Rücken liegen, Kinn Richtung Brust ziehen, Kopf anheben: die einfachste Übung der Welt. Selbst für unsportliche Menschen. Für Florence Schelling, 31, ist es die anstrengendste überhaupt.
13 Monate ist es her, seit sie sich bei einem Skiunfall in Davos den sechsten Halswirbel gebrochen hat und dazu eine schwere Gehirnerschütterung davontrug. 50 Prozent darf sie heute wieder arbeiten, der Rest ihres Lebens gehört der Rehabilitation. «Es sind schon noch viele Einschränkungen im Alltag da», sagt die Zürcherin. Die Gleichgewichtsstörungen hat sie mittlerweile im Griff, aber nach zehn Minuten am Bildschirm oder mit einem Buch verschwimmt nach wie vor alles vor ihren Augen. SMS tippt sie mit Schreibfehlern, weil sie die Buchstaben nicht trifft, ohne es zu merken.
Dennoch stellt sie sich nun einer neuen, Mammutaufgabe: Florence Schelling wird die neue Sportchefin des SC Bern. Sie ist damit die erste Frau in dieser Position. Im Interview mit dem «Blick» bekräftigt sie, dass sie glaubt, dieser Herausforderung gesundheitlich gewachsen zu sein. Schränkt aber ein: «Ich muss meinen Fokus auch auf meine Gesundheit legen. Aber ich kann in einer solchen Position natürlich nicht sagen: Ich gehe jetzt nach Hause und schalte ab. Der Kopf denkt weiter. Ich beginne bei 50 Prozent und hoffe, bald voll arbeitsfähig zu sein.»
Vielleicht geht es nochmals ein Jahr, bis wieder alles gut ist, vielleicht mehr, vielleicht weniger, das lässt sich nicht prognostizieren. «An schlechten Tagen sage ich mir, wie viel Glück ich hatte, dass ich nicht querschnittgelähmt oder tot bin», sagt Schelling. «Ich gebe der Situation einfach so lange, wie sie braucht. Diese Zeit nehme ich liebend gerne auf mich.»
Dennoch ist die langsame Genesung ungewohnt für die ehemalige Spitzensportlerin, die immer intensiv und erfolgreich gelebt hat: Bereits mit 16 Jahren steht sie an ihren ersten Olympischen Spielen im Tor. 2012 führt sie die Schweizer Eishockey-Nati zu WM-Bronze, nachdem sie im entscheidenden Spiel gegen Finnland 50 von 52 Schüssen auf ihr Tor abgewehrt hat. 2014 gewinnt die Schweiz an den Winterspielen in Sotschi ebenfalls Bronze, Schelling wird als beste Spielerin des ganzen Olympia-Turniers ausgezeichnet. Daneben studiert sie in den USA und Schweden Wirtschaft. Kein Zufall: Dort sind zwei der besten Frauenligen der Welt.
Als Schelling im Sommer 2018 zurücktritt, arbeitet sie in der Unternehmensberatung. Spürt jedoch schnell, dass das nicht ihr Ding ist. Sie kündigt und plant zwei Wochen Skiferien, um den Kopf durchzulüften und zu überlegen, wohin es gehen soll. «Daraus wurde dann halt ein Jahr», so Schelling, die ihr lautes, ansteckendes Lachen kein bisschen eingebüsst hat.
In Davos fährt sie über eine Schneeverwehung, und da sie langsam unterwegs ist, bleiben die Skispitzen in der Senke dahinter stecken, Schelling knallt vornüber hart auf den Kopf. Sie hört ein Knacken im Genick und spürt sofort die grössten Schmerzen, die sie je hatte. «Ich dachte: Ich lebe, das ist schon mal gut», erinnert sie sich. Die Rega fliegt sie nach Chur ins Spital, wo ihr die Halswirbel mit einer Metallplatte befestigt werden. Zudem wird eine zerstörte Bandscheibe durch ein Stück ihres Hüftknochens ersetzt.
Drei Monate lang muss sie eine Halskrause tragen, liegt stundenlang im Zimmer und starrt an die Decke. In dieser Zeit trifft sie die Erkenntnis hart, wie knapp sie an Schlimmerem vorbeigekommen ist. Und sie kann ihren Gedanken nicht entfliehen. «Ich habe über mein ganzes Leben nachgedacht», so drückt sie es aus, «da kamen mir zehn Jahre alte Gespräche in den Sinn!» Schelling akzeptiert es und nutzt die Zeit, ihre Karriere und ihr Privatleben zu verarbeiten, Schritt für Schritt. «Dafür habe ich mir vorher nie die Zeit genommen, ich war immer auf 200.»
Dann schliesst sie von einem Tag auf den anderen mit der Vergangenheit ab und blickt nach vorne. «Das war sehr befreiend.» Sie werde sicher nie Trainerin, hatte Schelling während ihrer Karriere gesagt. Doch nun reizt es sie, ihre vielen Erfahrungen weiterzugeben. Und das tut sie nun. Sie will, so Schelling, den SCB wieder an die Spitze führen, dass sie als Frau dabei vor allem Männer führen wird, irritiert sie mit Nichten. «Männer führt man, wie man andere Menschen führt. Ich bin sehr zielorientiert und ehrgeizig. Der Erfolg der Mannschaft steht über allem. Diesen Führungsstil werde ich einsetzen.»
Lange Zeit war sie das Gesicht des Schweizer Frauen-Eishockeys gewesen, hat sich auch gegen den Verband aufgelehnt, als die Spielerinnen etwa nach Olympia-Bronze gerade mal 1000 Franken Prämien erhielten, die Männer nach WM-Silber aber 25'000 Franken pro Kopf. Selber hat sie ihre ganze Nachwuchszeit bei Bubenteams verbracht, später in der Schweiz auch in der ersten Liga bei den Männern gespielt. Sie ist jenen dankbar, die ihr diesen ungewöhnlichen Karriereweg ermöglicht haben. «Es wurde mir bewusst, wie wenig oder wie viel es eben braucht, um als Trainer einen Unterschied zu machen.»
Den Einstieg ins praktische Trainerbusiness macht sie 2018 beim U18-Nationalteam der Frauen. Gleichzeitig beginnt sie ihre Trainerausbildung. Zudem wurde sie die erste Frau im Expertenteam bei den Eishockey-Übertragungen von SRF, im Mai auch an der Heim-WM in Zürich und Lausanne. Als Reaktion auf diese Verpflichtung hat sie mit einem Shitstorm gerechnet, wie es andere Sport-Expertinnen auch schon erlebt haben. Aber: nichts. «Es macht wahnsinnig Spass, bringt mir eine ganz neue Perspektive. Ich lerne extrem viel.»
Auch die Reaktionen auf ihren neuen Posten waren durchweg positiv, freut sich Schelling: «Mir kommt es vor wie nach Olympia-Bronze 2014. Das Telefon klingelt ständig.»