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  4. Psychologie: Darum ist es problematisch, wenn sich das Liebesleben in der Fantasie abspielt
Wenn sich das Liebesleben im Kopf abspielt

«Die Fantasie darf nicht Massstab sein für die Realität»

Wir Menschen haben Fantasien. Sie gehören zu unserem Leben dazu wie das Träumen. Wenn unsere Gedanken jedoch permanent um unsere Vorstellungen kreisen, wird das irgendwann problematisch fürs echte Leben. Psychotherapeutin Dania Schiftan klärt auf.

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Symbolbild Frau am Denken 2020

Fantasieren ist gut, sich komplett darin zu verlieren nicht.

Getty Images/Westend61

Frau Schiftan, in unserer Fantasie haben wir die kühnsten Wünsche und Vorstellungen, auch in Sachen Liebesleben. Warum ist das so?

Fantasien sind wie Träume. In der Fantasie ist alles möglich, daher kann das eigene Ich im Kopfkino mutiger handeln als im realen Leben. Gerade um das Liebesleben machen wir uns viele Gedanken und haben in unserer Fantasie auch zahlreiche Vorstellungen davon. Das ist grundsätzlich gut.

Warum gut?

Die Auseinandersetzung mit einem Szenario in der Fantasie bereitet unsere Psyche auf diese Situation im realen Leben vor. Fantasien bieten daher in jedem Alter eine gute Möglichkeit, sich auf ganz unterschiedliche Lebensereignisse vorzubereiten wie etwa die erste Beziehung, den ersten Sex oder auch das Zusammenleben in einer langjährigen Beziehung.

Wie weit entspricht das Liebesleben in der Fantasie dem in der Realität?

Das kann sehr ähnlich, aber auch sehr unterschiedlich sein. Es kommt darauf an, was man aus seinen Fantasien macht. Setzt man sie in die Realität um oder nicht? Es gibt Menschen, die eine Art Doppelleben führen. Sie leben in der Fantasie etwas und in der Realität etwas ganz anderes. Etwa eine Frau, die im Kopf ständig von einem Schauspieler fantasiert und gleichzeitig mit ihrem Ehemann Sex hat.

Kann das gefährlich werden, wenn solche Fantasien sehr dominant werden und über längere Zeit nicht mehr weggehen?

Im besten Fall peppen die Fantasien das reale Leben auf. Hartnäckige Vorstellungen des Kopfkinos können aber auch dazu führen, dass Betroffene mehr und mehr von der Realität enttäuscht sind. Wenn man die Realität andauernd an der Vorstellung misst, ist das desillusionierend. Ich halte daher fest: Die Fantasie darf nicht der Massstab sein für die Realität.

«Bevor man eine Fantasie in die Realität umsetzt, ist es wichtig, sich immer auch über die möglichen Konsequenzen bewusst zu werden»

Wie soll man damit umgehen, wenn einem eine bestimmte Vorstellung über Wochen nicht mehr aus dem Kopf geht?

Dann ist es ratsam, sich über die Wichtigkeit dieser Vorstellung klar zu werden: Kann ich mit meinen Fantasien leben, wenn sie im realen Leben nicht erfüllt werden oder ist mein Verlangen danach derart gross, dass ich alles dafür investieren muss, es zu bekommen? Ich mache gerne ein Beispiel: Einer Frau in einer monogamen Beziehung schwebt Sex mit einem anderen Mann vor, weil ihr dies in der Vorstellung ein bestimmtes Lebensgefühl wie etwa Begehrtheit vermittelt. Wenn dieser Gedanke sie nicht mehr loslässt, wird sie handeln und fremdgehen. Im anderen Fall hält sie diesem Wunsch Stand und bleibt ihrem Partner treu.

Was hilft bei der Entscheidungsfindung, ob man sich mit der blossen Fantasie abfindet oder es Realität werden lässt?

Bevor man eine Fantasie in die Realität umsetzt, ist es wichtig, sich immer auch über die möglichen Konsequenzen bewusst zu werden. Denn die Realität entspricht manchmal so gar nicht der Vorstellung. Um auf das Fremdgehen-Beispiel zurückzukommen: Diese Frau mag für diese Fantasie bereit sein, alles zu tun und ihre Beziehung aufs Spiel zu setzen. Wenn sie dann schliesslich Sex mit einem anderen Mann hat, kann das erwartete Glücksgefühl ausbleiben und es macht sich Enttäuschung breit.

Ist das dauerhafte Kreisen der Gedanken um etwas nicht ein Zeichen dafür, das man etwas wirklich tief will?

Die Dringlichkeit der Fantasie sagt nichts darüber aus, wie erfüllend etwas in der Realität ist. Ich hatte schon Patientinnen und Patienten, die nach der Umsetzung ihrer Fantasien enttäuscht in meiner Praxis sassen. In solchen Momenten kann man sich von seiner Intuition verlassen fühlen. Betroffene quälen sich dann mit Fragen herum wie: Was ist überhaupt noch echt und richtig?

Was raten Sie Ihren Patientinnen und Patienten dann?

Ich sage Ihnen, dass diese Enttäuschung und Desillusionierung normal ist und sie lernen können, damit umzugehen. Ein Misserfolg bedeutet nicht, dass man seinen Fantasien nicht mehr trauen kann. Es ist einfach umso wichtiger, nach solchen Misserfolgen zu erkennen, dass es eben wichtig ist zum Vornherein immer die möglichen Konsequenzen anzudenken.

Zur Person

Dania Schiftan Sexual- und Psychotherapeutin
ZVG

Dania Schiftan ist selbstständige Sexual- und Psychotherapeutin. Neben der Praxistätigkeit ist sie Autorin und Podcasterin und gibt regelmässig Kurse, Vorträge und Workshops. Sie ist Autorin des Buches «Coming soon - Orgasmus ist Übungssache», «Keep it coming - Guter Sex ist Übungssache» und der Graphic Novel «Let's talk about Sex», die im Piper-Verlag auf den Markt gekommen sind. Ganz neu erscheint nun Schiftans Buch «Das Comeback deiner Lust - So entfachst du das Feuer in dir», ebenfalls im Piper-Verlag.

Die menschliche Fantasie geht weit. Es gibt Menschen, die leben derart in ihrer Fantasie, dass sie diese gegenüber ihren Mitmenschen als Realität vorgeben. Sie gaukeln etwa eine Beziehung vor, die nur im Kopf stattfindet. Wie entsteht das?

Eine solche Ausprägung der Fantasie ist ein Extremfall. Die Ursache für ein solches Konstrukt liegt meist in sozialen Ängsten. Betroffene füttern nur noch ihre Fantasie, statt Erfahrungen im echten Leben zu machen. 

Warum erfinden Menschen eine Beziehung?

Weil einem auch die blosse Vorstellung einer Beziehung etwas gibt, zum Beispiel Sicherheit und Zugehörigkeit. Lieber habe ich eine Fantasie-Beziehung und kann dort mit dem Bild dieser Person reden und mir schöne Gefühle herholen, als dass ich im realen Leben eine schlechte Beziehungserfahrung mache. Solche Fantasie-Beziehungen entstehen aus reinem Selbstschutz.

«Wer nur noch in der Vorstellungswelt lebt, verliert seine Fähigkeit zu Toleranz»

Wie häufig erleben Sie das in Ihrer Praxis?

Patientinnen oder Patienten, die ihre Beziehung ohne reellen Bezug einzig und allein im Kopf konstruieren, hatte ich noch nie in meiner Praxis. Ich therapiere aber häufig Frauen oder auch Männer, die sich in Vorstellungen im Zusammenhang mit Online-Dating verloren haben. Sie schreiben monatelang mit einem Menschen, investieren wahnsinnig viel Zeit, vertrauen sich diesem Menschen in allen Belangen an und steigern sich regelrecht hinein. Aus lauter Angst, dass das Date im realen Leben niemals so toll ist, wie man es sich zusammenfantasiert hat, wollen sie ihr Gegenüber gar nie treffen.

Wie farbig und detailliert sind diese Vorstellungen von Online-Beziehungen?

Ich muss vorausschicken, dass ich ein totaler Fan bin von Online-Dating und den damit verbundenen Möglichkeiten; im Negativen machen sich aber einige eine total detaillierte Vorstellung. Die Vorstellung einer Person, die man via Online-Dating kennengelernt hat, betrifft alle Lebensbereiche, weil man sich über alles Mögliche mit dieser Person ausgetauscht hat. Sexualität, Beziehungsform, Aussehen, Art und Weise, wie jemand reagiert, wie er im Bett ist, wie er einem abholt in Gesprächen. Bevor es überhaupt zum ersten Treffen kommt, hat man schon eine ganz präzise Vorstellung im Kopf und genau hier liegt das Problem.

Wie äussert sich dieses Problem?

Wenn es dann zu einem Treffen im realen Leben kommt, reagieren viele äusserst empfindlich auf ihr Gegenüber. Bei der minimalsten Abweichung des Idealbildes sind sie enttäuscht und schiessen die Person in den Wind. Wer nur noch in der Vorstellungswelt lebt, verliert seine Fähigkeit zu Toleranz und das hat seine Schattenseiten im echten Leben. Wenn sich dieses Szenario ständig wiederholt, führt das bei Betroffenen zu einer sehr grossen Desillusionierung. Man entübt sich auch im Austragen von Konflikten, weil man immer sofort abblockt.

«Wenn einem die Sehnsucht dauerhaft nicht mehr loslässt, ist das Wegschieben dieser Gedanken keine gute Strategie»

In der Vorstellungswelt kreisen die Gedanken nicht immer nur um Konstruiertes, sondern greifen auch auf erlebte Erinnerungen zurück. Manche Menschen beschleichen zum Beispiel Gedanken zum Ex-Partner. Weshalb ist das so?

Unsere Ex-Partner waren ein wichtiger Teil unseres Lebens. Aus irgendeinem Grund war man ja mit der Person zusammen. Von dem her macht das total Sinn, dass diese Menschen auch in der Gegenwart Teil von unserem Leben sind. Man denkt auch immer wieder an seine Ferienaufenthalte oder Schulzeit zurück. Schwierig wird es allerdings, wenn die Erinnerung verherrlicht wird. Das übersteigerte Idealisieren eines Ex-Partners zum Beispiel ist nicht gut. Denn es blockiert uns, sodass wir nicht mehr offen für gegenwärtige oder zukünftige Beziehungen sind.

Wenn unsere Gedanken sich immer wieder um den einen Ex-Partner drehen, liegt es dann daran, dass wir Sehnsucht nach der damaligen Person haben oder mehr nach der damaligen Art von Leben, Beziehung oder auch Sexualität?

Beides kommt vor. Es kann auch nur die Sehnsucht nach einem Lebensgefühl sein, das man zur damaligen Zeit hatte und nun vermisst. Es können aber auch konkrete Sachen sein wie etwa der Ex-Partner, der einem immer das Frühstück ans Bett gebracht hat.

Wann ist es Zeit, einer mit Sehnsucht verbundenen Erinnerung in der Realität nachzugehen? 

Wenn einem die Sehnsucht dauerhaft nicht mehr loslässt, ist das Wegschieben dieser Gedanken keine gute Strategie. Das macht die Sehnsucht nur noch drängender. Man muss sich daher im echten Leben damit auseinandersetzen. Was bildet diese Sehnsucht ab? Sagt mein Wunsch danach etwas über einen Lebensbereich aus, den ich gegenwärtig nicht füttere? Ist es eine Flucht aus der Realität?

Und dann?

Wenn man Klarheit darüber gewonnen hat, offen für das echte Leben sein. Sehnsüchte wie auch Fantasien können sich manchmal auch in der Praxis als richtig herausstellen. Einfach immer alle möglichen Folgen bedenken: Was ist, wenn es nicht so ist, wie ich mir das vorgestellt habe? Gedanklich gut vorbereitet hat man eher die Kraft, die Realität anzunehmen.

Von Sarah Huber am 8. September 2022 - 09:10 Uhr, aktualisiert 8. September 2022 - 09:15 Uhr