Baronin Nadine de Rothschild empfängt in ihrem charmanten Haus in Jussy in der Nähe von Genf. Es ist eine Oase der Ruhe – mit einem Garten, so weit das Auge reicht. «Ich habe es in fünf Minuten gekauft. Die Möbel habe ich bei Ikea gefunden», erzählt sie. Die 90-Jährige hat einen festen Händedruck und einen wachen Geist. In ihrem Wohnzimmer mit Bibliothek erinnern Fotos an die Männer ihres Lebens: Edmond, ihren Mann, und Benjamin, ihren einzigen Sohn.
Benjamin hatte nach dem Tod seines Vaters 1997 den Vorsitz des Bankhauses Edmond de Rothschild Group übernommen. 2021 starb er ganz unerwartet im Alter von 57 Jahren an einem Herzinfarkt. Heute leitet die Frau von Benjamin, Ariane de Rothschild, die Rothschild-Gruppe, die noch immer im Familienbesitz ist.
Auf der Todesanzeige von Benjamin fehlte der Name seiner Mutter Nadine. Die Schwiegertochter habe es so gewollt. Es heisst, die Beziehung zwischen den beiden sei schlecht, die vier Enkelinnen würden ihre Grossmutter nicht kennen. «Ich widme ihnen mein neues Buch und möchte, dass sie wissen, dass ich an sie denke», sagt die Baronin. Bei einer Tasse Kaffee blickt sie nochmals auf die Etappen ihres aussergewöhnlichen Lebens zurück.
Ein einfaches Leben
«Meine Mutter war Hausfrau, mein Stiefvater Polizist. Wir haben uns abwechselnd in einem Waschbecken gewaschen. Jeder sagte: ‹Jetzt reichts, jetzt bin ich dran.›» Dieses einfache Leben in Puteaux, einem Pariser Vorort, formt den Charakter von Nadine Lhopitalier – ihr damaliger Name. «Ich beneide Kinder nicht, die, wie mein Sohn, in ein privilegiertes Umfeld geboren werden. Geld macht nicht glücklich.»
Nadine wächst in einer kommunistischen Familie auf. «Als kleines Mädchen hatte ich Hammer und Sichel auf den Unterarm gemalt, wenn wir zur Fête de l’Humanité gingen.» Sie ist 14 Jahre und einen Tag alt, als sie von zu Hause auszieht, um ihr eigenes Leben zu führen. «Ich arbeitete in einer Fabrik, nähte Druckknöpfe an die abnehmbaren Dächer von Peugeot-Cabriolets an und wohnte in einem Dienstmädchenzimmer.»
Mit 16 wird sie die Muse und Modell von Maler Jean-Gabriel Domergue, der in einem prächtigen Gebäude in der Nähe der Champs-Élysées wohnt. Als sie die besseren Wohngegenden von Paris sieht, wird der Teenager von Sehnsüchten gepackt. «Wo ich wohnte, war nicht die Umgebung, die ich mir für den Rest meines Lebens wünschte.» Domergue rät ihr, zu Marc Allégret zu gehen, einem angesagten Regisseur und Talentscout. Der hat schon Brigitte Bardot und Simone Signoret entdeckt.
Die Femme fatale
So beginnt die Karriere von Nadine, die sich nun den Künstlernamen Tallier aneignet. Sie spielt in mehr als 40 Filmen mit, dreht 1957 zusammen mit Louis de Funès die Komödie «Comme un cheveu sur la soupe», spielt in London im Musikfilm «Girls at Sea». Mit ihren hohen Wangenknochen und den mandelförmigen Augen verdreht sie als Femme fatale den Männern den Kopf und erobert mit 20 bereits die Welt.
«Ich hatte die Rolle der First Lady, verwaltete unsere 14 Residenzen»
Nadine de Rothschild
In dieser Zeit liest sie Nadine Louise d’Alq, Autorin des französischen Knigge. Gute Umgangsformen, richtiges Benehmen, das interessierte sie. «Ich entdeckte eine Welt, die ich zuvor nicht gekannt hatte.»
Eines Tages sitzt Nadine Tallier bei einem Abendessen neben Baron Edmond de Rothschild. «Er schaute sich meinen Ring an und sagte: ‹Er ist wunderschön, aber der Diamant ist leider nicht echt›.» Als er eine Pille nimmt, sieht sie seinen Ehering in der Dose liegen. «Ich sagte: ‹Mein Diamant ist falsch, aber Ihr Ehering ist echt.›» Er antwortete: «Ich bin in Scheidung.»
Zum Judentum konvertiert
Edmond bringt die 27-jährige Schauspielerin an diesem Abend nach Hause, sagt zu ihr: «Wann sehen wir uns wieder? Sie sind die Frau meines Lebens.» Nadine verfällt seinem Charme. «Natürlich wusste ich, dass er viel Geld hatte, sogar eine Bank besass. Und ja, man hat mir vorgeworfen, ich sei nur an seinem Scheckbuch interessiert. Darauf habe ich jeweils geantwortet: ‹Er hat nicht nur ein Scheckbuch, er hat eine Bank.› Edmond war zwar nicht schön, aber er war sehr präsent und ein Mann mit starkem Willen. Er konnte sich durchsetzen, hatte Charakter und war meistens sehr freundlich.» Nach drei Jahren kommt Sohn Benjamin zur Welt, die beiden heiraten.
Damit tritt die Kommunisten-Tochter ein in den Kreis der schwerreichen Rothschild-Familie, milliardenschwerer Aristokraten und Bankiers. Sie konvertiert zum Judentum, trägt nun als Baronin Edmond de Rothschild massgeschneiderte Kleider von Givenchy, führt ein Leben auf der Überholspur.
Von den Kennedys bis zu Lady Diana, von Romy Schneider bis zu Greta Garbo – sie hat sie alle empfangen. «Ich hatte die Rolle der First Lady und verwaltete unsere 14 über die ganze Welt verteilten Residenzen. Von London flogen wir zum Abendessen nach New York. Man musste mithalten. Ich habe nie gesagt: ‹Ich kann nicht.› Ich wollte diesem Mann, der mir alles gegeben hat, gerecht werden. Ich hätte ihn nie betrogen.»
Für ihn bearbeitet sie Akten, verwaltet Hilfswerke und lernt, grosszügig zu sein. «Allein dieses Jahr betreue ich acht Projekte für das Genfer Kantonsspital, eines davon betrifft Diabetes bei Kindern – mit einem Volumen von über einer Million Franken.» Sie erinnert sich: «Edmond und ich waren ein Paar, das an keiner Prüfung zerbrechen konnte.»
«Ich war altmodisch»
Nadine de Rothschild hat in ihrem Leben auch nie an Scheidung gedacht: «Ich habe meine Welt, mein Zuhause zusammengehalten wie vielleicht viele Frauen zu dieser Zeit. Ja, ich war altmodisch.»
Nach dem Tod ihres Mannes hat Nadine de Rothschild ihrem Sohn das Schloss Pregny, das Haus in der Rue de l’Élysée, das Anwesen Château Clarke und das Chalet in Megève überlassen. Nicht aber das, was sich darin befand. Mit den geerbten Gegenständen und Kunstwerken möchte sie in Genf ein grosses Rothschild-Museum im Namen von Edmond und ihr errichten. «Das Museum ist die letzte Hommage an meinen Mann.» Seit sie auch Benjamin verloren habe, zwinge sie sich, so zu sein, wie sie früher war, nämlich gut gelaunt. «Traurig bin ich abends, wenn ich allein bin.»
Beim Abschied eine letzte Frage: Hat sie nicht das Gefühl, ausserhalb der Realität gelebt zu haben? «Doch, das habe ich. Aber ich bin trotzdem immer am Boden geblieben. Ich weiss, woher ich komme. Und ich weiss, wohin ich gehen will.»
Bearbeitung: Janine Urech