Hand hoch, wer gerade im Homeoffice sitzt und keinen BH trägt! Es fühlt sich schliesslich gut an, nicht täglich mit pieksenden Metallbügeln unter der Brust herumzulaufen, die unangenehme Druckstellen verursachen, die kein Mensch gebrauchen kann. Trotzdem tun wir es immer noch fast täglich an (also, üblicherweise, wenn wir unseren heimischen Schreibtisch mal verlassen). Wieso eigentlich? Um den Standards in der Gesellschaft gerecht zu werden? Nicht jedem Dahergelaufenen unsere Nippel zu präsentieren? Weil Instagram sie immer noch zensiert? Das einzige, was sicher ist: Natürlich ist diese Scheu nicht. Früher sah das nämlich mal ganz anders aus.
Agnès, die Rebellin
Kurze Zeitreise ins 15. Jahrhundert: Agnès Sorel war in der Blütezeit ihres Lebens, als sie von Charles VII offiziell zu seiner Mätresse erkoren wurde, alle Rechte am Hof inklusive. Sie war ausserdem sowas wie die Bella Hadid von 1444 – eine Trendsetterin, die ihren Nippeln gern besondere Aufmerksamkeit bei der Wahl ihrer Outfits zukommen liess. Sie trug ihre Korsetts obenrum gern ungeschnürt, sodass der Blick auf ihre Brüste frei lag. Das war zwar frech, sorgte damals aber noch für weitaus weniger Aufmerksamkeit als die Tatsache, dass sie es sich erlaubte, ein Collier mit Diamanten um den Hals zu tragen (das war nur Königen gestattet). Mit ihrem Nippel-Fokus setzte sie dafür einen Trend, dem viele folgten.
Der Nippel am königlichen Hofe
Drei Jahrhunderte später war es erneut wahnsinnig hip, Nippel zu zeigen. Aber nicht etwa auf dem Land oder in der Kneipe, wo denkt ihr hin! Mode war etwas, das den Adligen am Hofe vorbehalten war. Wer es sich leisten konnte, stolzierte mit tief geschnürten Korsetts, die UNTER den Nippeln endeten, zum Bankett. Allen voran Gabrielle Émilie Le Tonnelier de Breteuil, Marquise du Châtelet-Laumont. Sie war ziemlich clever, gebildet in Philosophie und Mathematik, die Mätresse von Voltaire und hatte eine Schwäche für Rouge. Auf ihren Nippeln. In Kleider gepackt, aus denen sie oben herausschauten, wurden sie perfekt in Szene gesetzt. Wer nicht so der Blush-Fan war, konnte auch auf kunstvoll geformte und kristallbesetzte Ringe zurückgreifen, die um die Brustwarzen gelegt wurden. Très chic.
1780 kam der offene Nippel langsam aus der Mode und die Kleider reichten höher. Napoleons Schwester, Pauline Bonaparte, hielt allerdings nicht viel von der neuen Mode und trug statt engen Korsagen gern transparente Kleider, um dem Hof etwas zu Reden zu geben. Dem Rouge-Trick ihrer Vorgängerinnen blieb sie dennoch treu. Sie war damit eine der Letzten.
Weg mit der Brustwarze!
Die Trends, die folgten, fokussierten sich vor allem auf eins: die Nippel zu verdecken. Nach Möglichkeit komplett und das nicht nur farblich, sondern auch so, dass nicht mal ihre Form mehr zu erahnen war. Das heisst: Insofern man eine Frau war. Männer durften sich ab sofort umso lieber oben ohne zeigen.
War der Körper trainiert, schaute man gerne hin. War er das nicht, dachte man sich nichts weiter dabei. Die Männer zogen also blank und die Frauen begannen, sich zu verhüllen. Nicht zu viel, versteht sich. Ein Bikini war schon in Ordnung. Man sollte ja erahnen dürfen, welche Kurven sich darunter «versteckten» – eine Gratwanderung.
In den 1960ern hatte eine Gruppe von Frauen schliesslich genug von der Objektifizierung und all der Heimlichtuerei um die Rundungen unter BHs und Bikinis. Sie protestieren vor der Miss America Wahl und entsorgten ihre unbequemen Exemplare symbolisch in eine «Freedom Trash Can». Der Teil der Geschichte, in dem sie die Mülltonne anschliessend anzündeten, um ihre BHs dramatisch zu verbrennen, hat übrigens nie stattgefunden.
Ihrem Beispiel folgten Bianca Jagger, Jane Birkin und Cher – ihnen allen waren BHs ziemlich egal. Ob jemand ihre Nippel sehen konnte, erst recht. Sie legten den Grundstein für die zweite, goldene Ära der weiblichen Brustwarzen in der Mode: die 1990er.
Die Nippel-Ära, Part II
Kate Moss. Madonna. Zirca jedes Design, das Jean-Paul Gaultier jemals entworfen hat. Alle feierten plötzlich die frohe Botschaft: Frauen haben Nippel, und wenn sie jemand sieht, wird er weder versteinert noch fällt er tot um! Man kann sie anschauen, ohne gleich über die jeweilige Frau herzufallen. Wer hätte das gedacht!
Folglich kam auch Jennifer Aniston in «Friends» gar nicht erst auf die Idee, mal einen BH anzulegen. Und Samantha lieh Miranda ihre Stick-on-Nippel in einer Folge von «Sex and the City» – bewundernde Blicke der Männer inklusive.
Fashion Tits
Heute sind es Bella Hadid, Kendall Jenner und Miley Cyrus, die ihre Nippel der Welt präsentieren. Wundern tut sich keiner mehr. Höchstens freuen. Sie sind ein Stück weit zur Normalität geworden. Sie sind zwar da, aber werden nicht sofort über-sexualisiert. Aber sie kommen mit einem Problem. Denn ihre Nippel und die dazugehörigen Brüste sind etwas, das unsere Gesellschaft heute als «Fashion Tits» betitelt: Sie sind unverschämt perfekt. Aus rein praktischen Gründen bräuchten sie ohnehin keinen BH. Sie hängen nicht, stehen nah beieinander und die Brustwarzen sitzen so unnatürlich hoch, das man sich zwangsläufig fragt, ob mit einem selbst irgendetwas nicht stimmt. Wenn sie im 100. Naked Dress auf einer Party hervorblitzen, oder unter einem engen Top im kalten Wind sichtbar werden, dreht sich niemand mehr um. Sie gehören ja schliesslich zum Körper der Damen.