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Mittelklasse

Gedanken über Leben und Tod

Je älter man wird, desto mehr Menschen aus dem Umfeld muss man ziehen lassen. Der Vater unserer Bloggerin starb bereits vor 18 Jahren. Durch seinen Tod hat sie gelernt, dass auch jemand, der schion lange nicht mehr unter uns weilt, zum eigenen Leben gehören kann. Und sie hat die Erfahrung gemacht, dass sie auch heute noch wegen ihrem Papa ins Fettnäpfchen treten kann.

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Sandra Casalini, Mittelklasse

Nase, Augen und Haare hat Sandra von ihrem Vater. Zum Glück nur die Haarfarbe, nicht den Haarausfall, mit welchem ihr Papa schon recht früh zu kämpfen hatte.

Lucia Hunziker

Kürzlich dachte ich beim Blick auf mein Handy-Display: «Dieses Datum kommt mir irgendwie bekannt vor.» Es dauerte tatsächlich Stunden, bis ich realisierte, warum. Eine Tatsache, die mich nachdenklich stimmt. Denn damals, vor Jahren, hätte ich mir nicht vorstellen können, dieses Datum jemals zu vergessen. Der 11. April 2007. Der Tag, an dem mein Vater nach einem Skiunfall ins Koma fiel, aus dem er nie wieder erwachte. Zehn Tage später hörte er auf zu atmen. Ich war damals sicher, dass sich diese Tage, der 11. und der 21. April, für immer in ein mein Gedächtnis einbrennen würden. Denn wäre das nicht der Fall, würde ich meinen Papa irgendwann vergessen. Davor hatte ich unglaubliche Angst.

Je älter man wird, desto mehr nahestehende Menschen muss man gehen lassen. Das hat unweigerlich zur Folge, dass man sich mehr Gedanken macht über den Tod als in früheren Jahren. Vor 18 Jahren war für mich total unvorstellbar, wie ich den Tod meines Vaters je überwinden sollte. Wie ich mit dieser Lücke weiterleben sollte. Wie diese Trauer, die von jeder Faser meines Körpers Besitz zu nehmen schien, je vergehen sollte. Dass sein Todesdatum heute kaum mehr eine Rolle spielt für mich, bedeutet nicht, dass ich ihn vergessen habe. Im Gegenteil. Es bedeutet, dass sein Tod nicht mehr so relevant ist für die Rolle, die er immer noch in meinem Leben spielt. Wenn ich Anekdoten aus meiner Kindheit erzähle, kommt mir nicht als erstes in den Sinn, dass mein Vater gestorben ist. Dann ist er für mich genauso präsent wie meine Mutter oder andere Menschen aus meinen Kindertagen. Und ich frage ihn immer noch regelmässig um seine Meinung – und ignoriere sie genauso oft, wie ichs tun würde, wäre er noch physisch anwesend. Ich glaube, ich weiss jeweils ziemlich genau, worüber mein Vater und ich gleicher Meinung wären und worüber nicht.

«Ich frage mich sehr, sehr selten, wie es wäre, wenn mein Papa noch hier wär. Auch nicht, wie er heute aussähe oder was für ein Grossvater er gewesen wäre.»

Die Aussage, dass der Tod zum Leben gehört, hat für mich in den vergangenen 18 Jahren eine ganz neue Bedeutung bekommen. Es ist nämlich auch so, dass die, welche nicht mehr unter uns sind, nach wie vor zu unserem Leben gehören können und sollen. Wenn auch nicht in der genau gleichen Art und Weise, wie wenn sie noch leben würden. Vermutlich wäre vieles anders, wenn mein Papa noch hier wäre. Ich frage mich aber sehr, sehr selten, wie das wäre. Auch nicht, wie er heute aussähe oder was er für ein Grossvater gewesen wäre (meine Kinder waren 2 Jahre, bzw. 7 Monate alt, als er starb).

So bin ich vor einiger Zeit in ein ziemliches Fettnäpfchen getreten, als ich bei einem Besuch in einem Lokal in meinem Heimatort eine Dame fragte, ob sie mit meinem Vater zur Schule gegangen sei. «Na hör mal, ich bin doch einiges jünger!», meinte sie. Erst da ging mir auf, dass mein Vater heute ja 78 wäre, und nicht mehr 60, wie sie. Er hätte sich krumm gelacht darüber. Die Tatsache, dass er zumindest in meinem Kopf nie älter wird, fände er sicherlich recht schmeichelhaft.

Ob ich daran glaube, ihn nach meinem eigenen Tod wiederzusehen? Ich habe keine Ahnung. Und ich finde es auch nicht so wichtig. Was ich hingegen weiss, ist, dass Goethe recht hatte, als er sagte: «Was man tief in seinem Herzen besitzt, kann man nicht durch den Tod verlieren.»

Von SC am 27. April 2025 - 07:30 Uhr