Lieber Gottfried Locher
Ihre Ambition, als Präsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK) die Rolle eines Bischofs zu spielen, der in relevanten Fragen seinen Schäfchen mit dem Hirtenstab vorausmarschiert, haben Sie wieder mal brillant inszeniert. Schon im Sommer haben Sie die Ehe und Trauung für alle befürwortet, weil auch Homosexualität Gottes Schöpfungswille entspreche. Und damit für etliche Irritationen gesorgt. Jetzt haben Ihnen die SEK-Abgeordneten recht gegeben und den Mitgliedskirchen empfohlen, die Trauung für alle einzuführen.
Das ist ein schöner Sieg über die evangelikalen und konservativen Kirchenleute, die Homosexualität immer noch für eine Art Krankheit halten und überzeugt sind, dass eine Ehe für alle «nicht Gottes Wille» entspricht. Es ist schon faszinierend, wie sich aufgeklärte und gebildete Menschen heute noch darüber streiten können, was wirklich Gottes Wille sein soll und wer die Gnade dieser reichlich abstrakten Figur verdient haben soll. Aber dies nur nebenbei.
Wenn die Kirchen nicht vollends neben den gesellschaftlichen Entwicklungen vorbeikutschieren wollen, dürfen sie die «Heilige Schrift» definitiv nicht mehr aus der Perspektive der damaligen Gesellschaft lesen, wo untreue Frauen gesteinigt und Kinder als Sklaven verkauft wurden.
Ob nun bei Homosexuellen ein Hochzeitsboom ausbrechen wird, ist eine andere Frage. Menschen, die jahrhundertelang von den Religionen aller Art brutal diskriminiert wurden, müssen schon ein grosses Mass an christlicher Versöhnungsbereitschaft aufbringen, um ihre Liebe ausgerechnet von einer Kirche segnen zu lassen.
Trotzdem, herzliche Gratulation.
Mit freundlichen Grüssen