Liebe Marina Carobbio
Ein gutes Pferd siegt immer knapp, sagen die Chinesen. Sie haben das CVP-Urgestein Filippo Lombardi mit nur 45 Stimmen mehr geschlagen. Und damit gezeigt,dass Sie definitiv für Höheres bestimmt sind. Der Gewerkschaftsbund hat zwar einen Mann zum Präsidenten gemacht und nicht Sie. Gegen Alain Berset hatten Sie bei der Bundesratswahl auch keine Chance. Aber wenn in der Regierung wieder einmal ein Platz frei wird für SP, Frau und lateinische Schweiz, läutet vielleicht Ihre Stunde.
Fürs Erste ist es einfach schön, dass das Tessin ein neues Gesicht hat, das so ganz anders ist: vor Urzeiten, das heisst 40 Jahren, prägten respektable Mannsbilder, mehrheitlich von FDP und CVP, die Tessiner Delegation in Bern. Dann wurde das Image geschädigt durch lärmige Koks-Schnupfer der Lega. Der freundliche und konsensfähigen Filippo Lombardi repräsentierte dann, was sich Deutschschweizer unter einem guten Tessiner vorstellten: einen sinnenfrohen, mit allen – auch hochprozentigen – Wassern gewaschenen Mischler und Schnellfahrer, ein gemütlicher Typ halt, dem man auch Ausschreitungen verzeiht. Wie schnell doch die Zeit vergeht! Heute kann man sich Lombardi schon eher als rundlichen Senator in einem Asterix-Film vorstellen als unter der Bundeskuppel.
«Sie zwingen uns, unser Bild vom Zoccoli-Tessin zu revidieren»
Jetzt kommen Sie, die perfekt dreisprachige Ärztin, die Politik betreibt, weil sie sich gerne für andere Menschen, vor allem Frauen, einsetzt, sich für einen Wickelraum für junge Mütter im Parlament engagiert hat, für ein Internetportal für Politfrauen und vor allem für die Italianità. Die Tessiner haben mit Herzklopfen wahrgenommen, dass Sie Debatten auch auf Italienisch führten. Und welcher Nationalratspräsident hätte schon eine Sitzungspause angeordnet, um den Frauenstreik vor der Tür zu begrüssen? Sie zwingen uns, unser Bild vom Zoccoli- und Boccalino-Tessin definitiv zu revidieren.
Mit freundlichen Grüssen
Peter Rothenbühler
Die SP-Politikerin Marina Carobbio beendet ihr Jahr als Nationalratspräsidentin mit einem Überraschungssieg: Die Ärztin schafft als erste Tessiner Frau den Sprung in den Ständerat, mit 45 Stimmen mehr als CVP-Fraktionschef Filippo Lombardi, der nach 20 Jahren Bundeshaus abgewählt wurde. Die Tochter von alt Nationalrat Werner Carobbio gibt dem Tessin, einst Hochburg von FDP und CVP, ein neues Gesicht.