Sommerferien 1990. Ich war fast 15, also ungefähr so alt wie meine Tochter heute. Im Jugendclub des Feriendorfes, in dem ich mit meiner Familie war, lernte ich ein gleichaltriges Mädchen kennen, mit dem ich mich sofort verstand. Sie hiess Nadine und kam aus Chemnitz.
Das sagte mir damals wenig. Ihre Geschichte berührte mich allerdings umso mehr. Ihr Vater war ein Jahr vor dem Mauerfall in den Westen geflohen, sie hatte ihn eineinhalb Jahre nicht gesehen. Das hier waren ihre ersten Familienferien überhaupt.
Unsere Eltern verstanden sich genauso gut wie wir, und sie luden uns spontan ein, sie zu besuchen. Die Bilder, die ich von diesem Besuch in Chemnitz habe, sind nur noch bruchstückhaft vorhanden. Dafür umso intensiver. Eine Fahrt im Trabbi über kopfsteingepflasterte Strassen.
Ein mit Farbe beschmiertes Karl-Marx-Denkmal. Und vor allem eine enge, dunkle Dreizimmerwohnung, in der die Familie zu viert lebte. Nadine teilte sich ein Mini-Zimmer mit ihrem kleinen Bruder – meine absolute Horrorvorstellung.
«Dass meine Kids so ruhig sind, kann ich nicht richtig deuten. Könnte es sein, dass sie wirklich betroffen sind?»
Jahre später, November 2017. Ich stehe mit meinen Kindern am Checkpoint Charlie in Berlin. Es ist kalt und windig, deshalb gibt’s keinen Protest, als ich sie ins Mauermuseum schleppe. Den Fakt, dass sie beide so ruhig sind, kann ich nicht richtig deuten. Sind sie vollkommen durchgefroren, ultimativ gelangweilt – oder könnte es sein, dass sie wirklich betroffen sind?
«Krass», sagt meine Tochter irgendwann in die Stille. «Das ist ja noch gar nicht so lange her.» Es ist offenbar das erste Mal, dass sie Geschichte als etwas erlebt, das nicht in grauster Vorzeit stattfand. «Wie alt warst du da?», fragt sie mich. «Als die Mauer fiel? Etwa so alt wie du jetzt.» Und ich erzähle meinen Kindern von Nadine. Und von ihrem Vater, der unter Lebensgefahr geflohen war, in der Hoffnung, seinen Kindern irgendwann eine bessere Zukunft bieten zu können.
«Später greift er im Nebenraum, in dem man sich selbst auf einer Mauer verewigen kann, zum Stift. Und schreibt in grossen, krakeligen Lettern fünf Worte: «Warum habt ihr das gemacht?»»
Danach verbringen wir eine geschlagene Stunde im 360-Grad-Panorama der Mauer von Yadegar Asisi. Mein Sohn, der sonst sofort Bauchweh bekommt, wenn er eine Ausstellung betritt, steht und schaut. Wortlos. Später greift er im Nebenraum, in dem man sich selbst auf einer Mauer verewigen kann, zum Stift. Und schreibt in grossen, krakeligen Lettern fünf Worte: «Warum habt ihr das gemacht?»
Im Shop kaufe ich ihm ein kleines Stück der Mauer. Es ist das einzige Souvenir, das auf seinem Schreibtisch steht. «Manchmal», sagt er, «erinnert es mich daran, dass es Schlimmeres gibt als Hausaufgaben. Aber nur manchmal.»
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