Digitalisierter Unterricht, Integration von leistungsschwachen und hochbegabten Schülerinnen und Schülern in Regelklassen, Wegrationalisierung von Kleinklassen. Immer mehr Eltern schicken ihre Kinder in teure Privatschulen, weil sie in der öffentlichen Schule «untergehen». Laut «Blick» hat sich die Zahl der Privatschülerinnen und -schüler im Kanton Zürich in den letzten zwanzig Jahren verdoppelt.
Noch mehr schockt mich allerdings eine andere Zahl: Laut «20 Minuten» ist jedes fünfte Schulkind verhaltensauffällig. Kein Wunder ist eine einzelne Lehrperson total überfordert und burnoutgefährdet. Man stelle sich vor: eine Klasse mit 25 Kids, denen man in einer gewissen Zeitspanne den Lehrplan verklickern muss. Und fünf stellen sich quer. Da wunderts mich echt nicht, dass man als Lehrerin oder Lehrer so hilflos ist, wie ich das zuweilen auch in meinem Umfeld beobachte.
Nun ist es bei weitem nicht so, dass ich der «Früher war alles besser»-Fraktion angehöre. Aber was die Schule betrifft, war früher zumindest alles einfacher. Das heisst nicht zwingend, dass es besser war. Die Regeln waren klar. Es gab verbindliche Stundenpläne, Hausaufgaben, Lernziele, Prüfungen, Noten. Wer zu schlecht war, wiederholte eine Klasse. Für Querschläger gabs Sanktionen. Wenn die nicht fruchteten, wurden sie aus der Klasse genommen.
Heute gibt es Wochenpläne, individuelle Prüfungstermine, integrative Förderung, Hausaufgaben auf Zeit und nach Wahl. Das ist nicht grundsätzlich schlecht. Nur funktioniert es oft nicht so, wie es sollte.
Mir kommt unser Schulsystem ein bisschen so vor, als hätte man auf einem Wanderweg den einen, klaren Wegweiser durch etwa fünf ersetzt, auf denen das gleiche Ziel steht, die aber alle in verschiedene Richtungen zeigen. Und man erwartet am Ende, dass alle Kinder zur gleichen Zeit am gleichen Ort angelangen. Wie unrealistisch das ist, zeigt die Tatsache, dass heute ein guter Teil der Schülerinnen und Schüler am Ende der obligatorischen Schulzeit den vorgeschriebenen Stoff nicht intus haben.
«Man bietet in unserem System also einen Stufenwechsel an, für den man die schulischen Voraussetzungen gar nicht mehr schafft.»
Meine Tochter machte im Frühling die Gymiprüfung, um nach der zweiten Sek ins dritte Gymi zu wechseln. Sie ist eine der Klassenbesten, hat in fast jedem Fach gute Noten. Ich war lange Zeit der Meinung, wenn ich sie mit einem – nicht gerade günstigen – Vorbereitungskurs auf die Prüfung ins Gymnasium pushen muss, gehört sie dort schlicht und einfach nicht hin. Ich wurde eines Besseren belehrt.
Schlussendlich besuchte sie doch so einen Kurs. Warum? Weil sie den für die Prüfung geforderten Stoff im regulären Schulunterricht noch nicht durchgenommen hatte, und ihn sich selbst aneignen musste. Man bietet in unserem System also einen Stufenwechsel an, für den man die schulischen Voraussetzungen gar nicht mehr schafft.
Nun ist es halt so: Je weniger Leitplanken das System setzt, desto mehr davon müssen die Lehrpersonen bieten. Sie müssten die Kinder an der Hand nehmen – manche mehr, manche weniger – und Ordnung in das Gewirr von Wegweisern bringen. Und zwar jedes einzelne. 25. Zwei davon sprechen kaum die Landessprache. Eines ist hochbegabt und jeden Weg schon drei mal gerannt und ultimativ gelangweilt, und bleibt deshalb aus Trotz einfach mal an Ort und Stelle sitzen.
Eines schafft den Weg nur, wenn man es die ganze Zeit an der Hand hält und nicht loslässt. Und eines benimmt sich total daneben, und keiner hat eine Ahnung, warum. Vermutlich stressen es unter anderem die vielen Wegweiser. Hätte es nur den einen, wäre er gar nicht verhaltensauffällig. Und die Lehrpersonen – im besten Fall sinds zwei, aber auch das ist meist Utopie – müssen alle 25 auf verschiedenen Wegen zur gleichen Zeit an den gleichen Ort bringen. Und wehe, sie machen dabei einen Fehler. Dann gibt’s aufs Dach. Von den Eltern. Und den Vertretern des Systems, von denen die meisten noch gar nie eine solche Wanderung absolvieren mussten.
«Es fehlen an allen Ecken und Enden schulische Heilpädagoginnen und -pädagogen, die sich um die Kinder kümmern sollen, die man auf Biegen und Brechen in den Regelklassen integrieren will.»
Die Theorie klingt ja gar nicht so schlecht. Man begibt sich zusammen auf diese Wanderung. Jeder wählt seinen eigenen Weg, sein eigenes Tempo. Wer unterwegs Hilfe braucht, dem wird geholfen. Von einer Lehrperson, von anderen Kindern und von einem Heilpädagogen, der sich um die «schwierigen» Fälle kümmert. Der denen, die kein Deutsch sprechen, mit Händen und Füssen den Weg erklärt. Der dem Hochbegabten eine Sonderaufgabe gibt und ihm die Hand zum Aufstehen reicht.
Der dem, der mit den vielen Wegweisern überfordert ist, hilft, den für ihn Passenden zu finden. Und dann den, der das braucht, an der Hand nimmt und sie nicht mehr loslässt, solange das nötig ist. Die Realität ist anders. Es fehlen nicht nur an allen Ecken und Enden Lehrpersonen, sondern vor allem auch schulische Heilpädagoginnen und -pädagogen, die sich um die Kinder kümmern sollen, die man auf Biegen und Brechen in den Regelklassen integrieren will.
Aber: Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass es eben echt gut sein kann, dieses System, wenn es denn funktioniert. Mein Sohn war von Anfang an einer, der nicht so richtig zurechtkam mit all diesen Wegweisern. Nicht vollkommen planlos, aber doch öfter überfordert. Kein Querschläger, aber halt einer, der – auch aus Überforderung – nie so richtig Bock hatte. Nicht der, der trotzend am Boden sass oder nach Aufmerksamkeit schrie, aber der, der öfter mal im Kreis lief.
Kein richtig schlechter Schüler. Aber auch kein richtig guter. Einer, dem man immer wieder mal nachlaufen musste. Mühsam, weil man dafür keine Zeit hatte. Schliesslich gab es noch die, die vollkommen planlos waren. Und die, die trotzten und schrien. Um die musste man sich zuerst kümmern.
«Mein Sohn, für den die Schule bis anhin immer mit einem gewissen Versagensgefühl behaftet gewesen war, erlebte zum ersten Mal Erfolge.»
Vor drei Jahren kam er in eine altersdurchmischte Klasse. Und traf dort auf eine Lehrerin, einen Lehrer und einen schulischen Heilpädagogen, die ihn nicht einfach in der «Mühsam-Schublade» stecken liessen, sondern sie – trotz Widerstand seinerseits – öffneten und ihn rausholten. Die in ihm das sensible, soziale Kind erkannten, das er ist – und auch erkannten, dass genau das seine Stärken sind. Und mein Sohn, für den die Schule bis anhin immer mit einem gewissen Versagensgefühl behaftet gewesen war, erlebte zum ersten Mal Erfolge.
Die waren anfangs nicht per se schulisch. Aber er erlebte sich selbst erstmals als jemand, der anderen – jüngeren oder schwächeren in seiner Klasse – helfen und etwas erklären konnte. Das steigerte sein Selbstbewusstsein. Parallel dazu stiegen tatsächlich seine Noten. Vergangenes Jahr wurde er als Vertreter seiner Klasse in den Klassenrat gewählt. Hätte mir das jemand vor vier Jahren gesagt, hätte ich es für unmöglich gehalten. Jetzt steht er vor dem Übertritt in die Oberstufe, hat Noten, die völlig in Ordnung sind, und vor allem das Vertrauen in sich selbst, dass er etwas erreichen kann, wenn er will.
Wir hatten das Glück, auf Lehrpersonen zu treffen, welche die Gabe haben, sich einigermassen sicher in dem Wegweiser-Dschungel zu bewegen. Und das auch noch mit Freude. Das ist offenbar eher selten der Fall. Schade. Vielleicht sollte man sich doch überlegen, wieder ein paar Leitplanken mehr in dem System zu verankern.