Mein lieber Sohn
Wenn ich dir sage, dass es für Eltern heutzutage wohl schwieriger ist, Buben zu erziehen als Mädchen, hat das absolut nichts mit euch Jungs im Allgemeinen und schon gar nichts mit dir im Besonderen zu tun.
Aber in den letzten Jahren haben sich so etwas wie Leitlinien entwickelt, die man als Eltern für die Mädchenerziehung nutzen kann, wenn einem Gleichberechtigung wichtig ist. Man soll Mädchen dazu ermutigen, für sich selbst einzustehen, sich nicht einschränken lassen, sich nicht in Schubladen stecken lassen, sagen, was sie denken, sagen, was sie wollen, leben, wie sie wollen, und sich nicht einreden lassen, dass sie etwas nicht können. Man soll Mädchen zu starken, selbstbewussten Frauen heranziehen, die sich nicht von den Männern auf die Kappe scheissen lassen.
Auch Frauen sind sexistisch
Und was ist mit euch Buben? Wenn überhaupt Bubenerziehung und Gleichberechtigung ein Thema ist, heisst es, dass man Jungs einen respektvollen Umgang mit dem anderen Geschlecht beibringen muss – umgekehrt sagt das nie jemand. Deshalb sag ichs dir jetzt: Du darfst – nicht nur von Mädchen und Frauen, aber auch von ihnen – den gleichen Respekt erwarten, den du anderen gegenüber zeigst. Jeder Mensch, der dich aufgrund deines Geschlechts abwertet (und sei es nur mit einem dummen, unüberlegten Spruch) ist weder witzig noch besonders selbstbewusst, sondern einfach nur dämlich. Momentan herrscht die Tendenz, dass Frauen Aussagen und Dinge durchgelassen werden, die bei Männern als sexistisch gelten. Aber echte Gleichberechtigung ist eben auch, dass man sich auch als Mann gegen solche Dinge wehren darf. Auch wenn sie von Frauen kommen. Vergiss das nicht.
«Die Chance ist hoch, dass du im Alltag Sexismus gegen Frauen mitbekommst. Schau nicht weg. Hör nicht weg.»
Du darfst genauso für dich selbst einstehen wie deine Schwester. Mach den Mund auf, wenn du dich unfair behandelt fühlst. Und worüber ich mich freuen würde: Tu es auch, wenn es um andere geht. Die Chance ist hoch, dass du im Alltag Sexismus gegen Frauen mitbekommst. Schau nicht weg. Hör nicht weg. Reagiere auf frauenfeindliche Witze – denn Sexismus ist nicht cool. Aber er wird nur aufhören, wenn er nicht mehr verharmlost wird.
Du musst dich genauso wenig einschränken lassen in deinen Plänen, Träumen und Wünschen wie deine Schwester. Abgesehen davon, dass es dir nicht möglich sein wird, Kinder zu gebären, gibt es nichts im Leben, das du dir nicht erträumen und erfüllen darfst (solange es sich im legalen Rahmen bewegt und du niemand anderen damit verletzt). Lebe und liebe so, wie es sich für dich richtig anfühlt. Und lass dir nicht einreden, dass es dabei Dinge gibt, die nicht im Bereich des «Männlichen» liegen. Das ist Bullshit.
Verletzlichkeit ist nicht unmännlich
Ignoriere Schubladendenken. Du warst lange genug «das schwierige Kind» – und ja, ich glaube, wenn du ein Mädchen wärst, hättest du von einigen Lehrpersonen ein bisschen mehr Goodwill bekommen. Menschen drücken anderen gern nach kürzester Zeit irgendwelche Stempel auf, und aufgrund seines Geschlechts ist man eh schon mal «vorgestempelt». Das wirst du nicht ändern können, also versuch, es möglichst nicht ernst zu nehmen. Und freu dich, wenn der eine oder die andere überrascht ist, dass du anders bist, als man auf den ersten Blick dachte.
Sag, was du denkst, was du willst – und was du fühlst. Es ist nicht unmännlich, zu gestehen, dass man verletzt oder verunsichert ist. Im Gegenteil. Es ist menschlich.
Frauen wollen die gleichen Chancen
Last but not least: Lass dich nicht verunsichern. Ich weiss, es sieht manchmal gerade ein bisschen so aus, als ob der Zeitgeist gegen euch Männer spricht. Und ich verstehe, wenn ihr das Gefühl habt, dass ihr gerade manchmal etwas unter die Räder kommt. Aber glaub mir: Wir Frauen wollen euch nichts wegnehmen. Wir wollen auch nicht einfach gleich sein wie ihr. Wir wollen die gleichen Chancen und gleich behandelt werden.
Die grösste Chance auf Gleichberechtigung haben wir, wenn wir uns selbst und andere in erster Linie als eigenständige Individuen wahrnehmen, denen wir nicht automatisch männliche oder weibliche Attribute und Rollen zuordnen. Das heisst überhaupt nicht, dass du keine männlichen Attribute haben darfst – aber lass dir nicht einreden, dass du irgend ein Rollenbild erfüllen musst. Sei einfach du. Dann kommts gut.