Als ihr kleiner Bruder zur Welt kam, hat ihn meine Tochter erst einmal gut zwei Wochen lang total ignoriert. Ich habe mit vielem gerechnet, auch mit Eifersucht, aber dass sie so tat, als würde er nicht existieren, fand ich schon etwas verwunderlich. Als ich ihn dann in den Kinderwagen legte, eskalierte die Situation: Kind 1, das seit geraumer Zeit nicht mehr in diesem Wagen sass, zog eine Riesenshow ab, wenn man das Baby im Aufsatz reinlegte, und weigerte sich, auch nur einen einzigen Schritt zu gehen, solange jemand anders in seinem «Wägeli» war. Und ich tat, was ich nicht für möglich gehalten hätte: Ich kaufte für Kind 2 einen neuen Kinderwagen.
In den drauffolgenden Jahren entwickelte sich ihre Beziehung vermutlich in einer recht typischen Art und Weise der Konstellation «grosse Schwester, kleiner Bruder» (da ich selbst einen jüngeren Bruder im gleichen Altersabstand wie meine Kinder habe, kann ich das einigermassen beurteilen). Der Kleine himmelte die Grosse bedingungslos an, sie schaute zwar mit einer gewissen Verachtung, aber doch unverkennbarer Schwesterliebe auf ihn herab. Und während sie zu Hause unendlich fies zu ihm sein konnte, stand er draussen unter ihrem bedingungslosen Schutz. Und auch – in der Primarschulzeit noch wichtiger – unter dem Schutz ihrer Freundinnen und Freunde zwei Klassen über ihm.
«Er geht in schöner Regelmässigkeit in ihr Zimmer, um zu schauen, was sie so macht, steht da eine Weile rum, und geht wieder.»
Viel geändert hat sich an ihrem Verhältnis zueinander nicht (das gilt übrigens auch für meinen Bruder und mich, ausser, dass ich ihn nicht mehr ganz so nervig finde, seit wir nicht mehr zusammen wohnen). Ihre Lebenswelten sind zwar auseinandergedriftet, seit sie nicht mehr zur selben Schule gehen, was bedeutet, dass sie im Alltag nicht mehr sehr viel miteinander zu tun haben. Deshalb kommts dann in den Ferien oft erst mal zu Spannungen – sie sind sich einfach nicht mehr gewohnt, so viel Zeit zusammen zu verbringen. Meist hat sich das aber bereits nach dem ersten Tag gelegt, und sie sind wieder ein einig Volk von «Mama-total-peinlich-Findenden».
Die herzigste Szene aus ihrer Kindheit, an die ich mich erinnere, ist der erste Kindergartentag der Grossen. Als sie weg war, machte der Kleine im Garten ein Tischchen und einen Stuhl parat für sie, wenn sie wieder zurückkam, und stand dann geschlagene zwei Stunden auf der Strasse rum, um auf sie zu warten. Und heute? Da geht er in schöner Regelmässigkeit in ihr Zimmer, einfach um zu schauen, was sie so macht, steht eine Weile da rum und geht wieder raus. Gewisse Dinge ändern sich tatsächlich nie.