Kürzlich musste ich einen Aufsatz von Kind 2 unterschreiben. Ich las ihn kurz durch und musste mal wieder feststellen: der 15-Jährige drückt sich schriftlich aus wie ein Primarschulkind. Ganz zu schweigen von den Grammatik- und Schreibfehlern. Das ist heute keine grosse Überraschung mehr. Das Kind hatte schon immer Mühe mit Lesen und Schreiben, kam seit der ersten Klasse immer nur mit Ach und Krach auf eine genügende Deutschnote. Aufsätze zu schreiben sind seit jeher ein Horror für meinen Sohn.
All dies ist seit Jahren ein Mysterium für mich. Denn Kind 2 ist sonst in sehr vielem mein Spiegelbild. Es gleicht mir nicht nur äusserlich, sondern hat auch meinen Humor und sehr viele meiner Eigenschaften. Es ist sehr pragmatisch und scharfsinnig, und ich muss es oft nur ansehen, um zu wissen, was in ihm vorgeht. Wie kann es sein, dass dieses Kind dermassen überhaupt nichts mit meiner grossen Liebe, der Sprache, anfangen kann? In meinem Kopf sind ständig Worte, Satzfragmente, Wortspielereien. Und während ich mir sehr genau vorstellen kann, wie sich die meisten Dinge für meinen Sohn anfühlen, kann ich mir null vorstellen, wie es in seinem Kopf aussieht. Was ist da? Bilder? Leere? Keine Ahnung.
«Ist Talent tatsächlich erblich? Weder die Gen- noch die Hirnforschung wissen es. Die Neurologie geht davon aus, dass Intelligenz zu einem grossen Teil erblich ist, und mit ihr wohl die Voraussetzung für diverse Talente. Aber das Talent selbst?»
Auf der anderen Seite hat er ein räumliches Vorstellungsvermögen, das für mich ein Buch mit sieben Siegeln ist. Sollte er als kleines Kind ein Haus zeichnen, zeichnete er einen Bauplan. Einen «Rubiks Cube» hat er innerhalb weniger Sekunden gelöst, wie er das hinkriegt, kann er mir nicht erklären. Genauso wie die meisten Mathe- und Geometrieaufgaben für ihn kein Problem darstellen, wohingegen ich oft schon an den einfachsten scheitere. Woher hat mein Kind dieses Talent? Ist es überhaupt Talent? Oder etwas anderes?
«Begabung, die jemanden zu ungewöhnlichen bzw. überdurchschnittlichen Leistungen auf einem bestimmten Gebiet befähigt.» So umschreibt der Duden Talent. Aber woher kommt dieses Talent? Und ist es, wie wir gemeinhin annehmen., tatsächlich erblich? Ich hab gegoogelt und gegoogelt und gegoogelt - und bin zum Schluss gekommen: Weder die Gen- noch die Hirnforschung wissen es. Die Neurologie geht davon aus, dass Intelligenz zu einem grossen Teil erblich ist, und mit ihr wohl die Voraussetzung für diverse Talente. Aber das Talent selbst? Da gehen Expertinnen und Experten eher von Vorbildern aus, sprich: all die Söhne oder Töchter von Sportlerinnen, Schauspielern oder Musikerinnen, die in die Fussstapfen ihrer Eltern treten, sind gar nicht unbedingt gleich begabt wie diese, sondern sehen und lernen einfach von klein auf, wies geht.
Nun, mein Kind hat mich von klein auf lesen und schreiben sehen. Ich habe ihm jeden Abend vorgelesen und Geschichten erzählt. Trotzdem interessiert es sich nicht für Sprache. Auf der anderen Seite haben meine Kinder Musik zu Hause immer als etwas erlebt, das man konsumiert, nicht als etwas, das man selbst kreiert. Mit zwei Jahren wollte Kind 1 tanzen, mit vier hat es damit angefangen. In der Primarschule begann es, Klavier zu spielen und zu singen, später eigene Songs zu schreiben. Heute besucht es das musische Gymnasium, singt in einer Band, tritt in Musicals auf. Ist das Talent? Und wenn ja, woher? Sicher nicht von mir. Schlussendlich spielts ja keine grosse Rolle. Ich bin einfach froh, hat keines meiner Kinder mein Talent, in Fettnäpfchen zu treten, geerbt. Aber vielleicht entwickeln sie das ja noch selbst irgendwann.