Als mein Sohn zur Welt kam, hat meine damals zweijährige Tochter ihn erst einmal ignoriert. Sie war nicht gemein zu ihm (oder zu mir), es gab kein Drama – sie tat schlicht so, als wäre er nicht da. Ungefähr eine Woche lang. Die Situation eskalierte erst, als ich ihn in ihren alten Kinderwagen legte. Sie funkelte ihn wütend an und sagte: «Mis Wägeli! Laufen!» – «Er ist ein Baby, er kann noch nicht laufen.» – «Warum hat er Beine?» Das waren die ersten Sätze, die sie über ihren Bruder sagte.
In den drauffolgenden Jahren entwickelte sich eine Hassliebe zwischen ihnen. Mal stritten sie, bis Tränen flossen, mal waren sie ein Herz und eine Seele. Ich erinnere mich an herzzerreissend schöne Szenen, zum Beispiel den ersten Kindergartentag der Grossen. Ihr kleiner Bruder, der sich nicht gewohnt war, ohne sie zu sein, vermisste sie so sehr, dass er ihr im Garten ihren Kinderstuhl und ihr Tischchen bereitmachte, und einen Znüni hinstellte, damit alles parat war, wenn sie wieder nach Hause kam.
«Eine Weile lang haben sie sich mehr oder weniger täglich gefetzt, und es kam öfter vor, dass meine Nerven blank lagen.»
Und ich erinnere mich an herzzerreissend furchtbare Szenen für mein Mutterherz, zum Beispiel als sie ihm die Tür ins Gesicht schlug und schrie: «Ich wünschte, du wärst nie geboren!» Eine Weile lang, da waren beide im Primarschulalter, haben sie sich mehr oder weniger täglich gefetzt, und es kam öfter vor, dass meine Nerven blank lagen.
Der Spuk hatte ein Ende, als der Jüngere in die Mittelstufe kam. Ich glaube heute, das hatte einiges damit zu tun, dass die beiden zu dieser Zeit in altersdurchmischte Klassen kamen. Sie gingen zwar nicht in dieselbe Klasse, aber der Viertklässler sass plötzlich mit Freundinnen seiner Schwester im Klassenzimmer, die Sechstklässlerin mit Freunden ihres Bruders. Ihre Freundeskreise durchmischten sich, sie waren in den gleichen Chatgruppen und unterhielten sich am Esstisch über die gleichen Kinder und Lehrpersonen.
«Wenn er Hilfe braucht, fragt mein Sohn zuerst seine grosse Schwester.»
Das schaffte ein Band zwischen ihnen, das bis heute anhält. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie sich seit dieser Zeit – also seit fast vier Jahren! – ernsthaft gezofft hätten. Ich weiss inzwischen auch, dass mein Sohn seiner Schwester mehr anvertraut als mir. Und wenn er irgendwo Hilfe braucht, zum Beispiel bei den Hausaufgaben, fragt er zuerst sie, nicht mich.
Das freut mich extrem. Ich habe eigentlich erst im Erwachsenenalter gemerkt, wie wichtig und schön ein enges Verhältnis unter Geschwistern ist. Als mein Vater starb, gab es genau eine einzige Person, die um das gleiche trauerte wie ich: mein kleiner, nerviger Bruder. Heute weiss ich, dass er eine der ganz wenigen Personen ist, die ich zu jeder Tages- oder Nachtzeit anrufen könnte, wenn ich Hilfe brauche. Und umgekehrt. Ich hoffe für meine Kinder, dass es bei ihnen mal genauso sein wird.
Einen einzigen kleinen Nachteil hat es allerdings, dass sie so gut miteinander klarkommen: sie verbünden sich regelmässig gegen mich. So steht es in unserem Haushalt immer irgendwie zwei gegen eins. Zum Glück habe ich noch einen ganz kleinen Vorteil und kann zum Beispiel Sanktionen aussprechen. Sonst wären die Teenies endgültig an der Macht. Und das muss ja auch nicht sein.
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