Fast 12’000 Jugendliche, die im Jahr 2017 ihre Lehre anfingen, lösten im Laufe dieser ihre Lehrverträge auf, schreibt «20 Minuten». Das sind 22,4 Prozent. Diese Zahl beinhaltet zwar nicht nur Lehrabbrüche, sondern auch Wechsel des Lehrbetriebs, sie ist aber dennoch so hoch wie noch nie. Viele der Lehrabbrecherinnen und -abbrecher erzählen Ähnliches: Der Druck in der 2. und 3. Sek., eine Lehrstelle zu finden – irgend eine – ist riesig. So entscheidet man sich für irgend einen Job in irgend einem Betrieb, einfach, damit man was hat. Und merkt dann, dass entweder der Job oder der Betrieb oder beides überhaupt nicht passt.
Der Druck wurde enorm
Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Mein Sohn hatte noch Mitte der 3. Sek null Ahnung, was er machen wollte, obwohl er bereits seit der 1. Sek immer wieder geschnuppert hat. Nichts wollte so richtig passen. Auch ein Besuch beim Berufsberater hat überhaupt nichts gebracht. Der hat ein paar Berufe in die technische Richtung ausgespuckt, die sich mein Junior alle nicht vorstellen konnte, das wars. Gegen Ende des Schuljahres wurde der Druck enorm, nicht nur auf ihn, auch auf mich. Und nicht nur von der Schule, auch von seinen Kameraden. Mit jedem seiner Freunde, die eine Lehrstelle in der Tasche hatten, fühlte er sich ein kleines bisschen mehr als Versager. Er liess irgendwelche Bewerbungen raus, zum Beispiel im IT-Business, die er sich so halbwegs vorstellen konnte, aber die Lehrstellen waren natürlich alle längst vergeben.
Zum Glück, muss ich ihm Nachhinein sagen. Denn es hat ihn vermutlich vor einem Lehrabbruch bewahrt. Als einer seiner Freunde eine Lehrstelle in einem Hotel bekam, fand er, das wolle er auch mal ausprobieren. Ihm gefiel die Vorstellung davon, die Gäste an der Rezeption zu empfangen. Ehrlicherweise musste ich zuerst lachen – ich wäre bei ihm nie auf diese Idee gekommen. Aber warum auch nicht.
«Und hier kam uns nun der Fakt zugute, dass es für Lehrstellen-Bewerbungen eh schon zu spät war. Das gab ihm die Freiheit und die Zeit, herauszufinden, ob es wirklich das ist, was er möchte. Und einen Lehrbetrieb zu finden, der wirklich zu ihm passt.»
Er ging also eine Woche in ein Hotel schnuppern – und Bingo. Er mochte alles, den Job, das Hotel, die Leute. Aber nur weil es ihm in diesem einen Hotel gefiel, hiess das noch lange nicht, dass ers in einem anderen auch so toll finden würde. Und hier kam uns nun der Fakt zugute, dass es für Lehrstellen-Bewerbungen eh schon zu spät war. Das gab ihm die Freiheit und die Zeit, herauszufinden, ob es wirklich das ist, was er möchte. Und einen Lehrbetrieb zu finden, der wirklich zu ihm passt. Eine Chance, welche die allermeisten Jugendlichen, welche ihre Lehre direkt nach der Schule beginnen, nicht haben.
Er hat nun seit vergangenem Sommer in verschiedensten Hotels und Restaurationsbetrieben gearbeitet, dort auch unterschiedliche Berufe ausprobiert, vom kleinen Familienbetrieb bis zum grossen Seminar-Hotel, vom der Backpacker-Bleibe bis zum Fünfsterne-Haus. Er hat gemerkt, wo seine Stärken und Schwächen sind, hat viel gelernt, und vor allem, weiss er, was er möchte, und wo er sich das vorstellen kann. Jetzt ist er parat, sich für eine Lehrstelle für nächsten Sommer zu bewerben – nicht blind bei gefühlten hundert Betrieben, einfach um etwas zu finden –, sondern genau dort, wo er findet, es passt zu ihm. Und die Chancen stehen gut – schliesslich wird er bei Lehrbeginn bereits ein Jahr lang Praxiserfahrung haben, im Gegensatz zu Schulabgängern.
Ein Praktikumsjahr würde die Zahl der Abbrüche verringern
Rückblickend war der Fakt, dass er nicht direkt nach der Schule eine Lehrstelle gefunden hat, das Beste, das meinem Sohn passieren konnte. Und ich fände, ein offizielles Praktikumsjahr (oder mindestens sechs Monate) vor dem Beginn der Lehre, wäre echt eine Überlegung wert. Ich bin überzeugt, ein solches würde die Zahl Lehrabbrüche um ein Vielfaches verringern.