Als ich mit meinem Sohn schwanger war, hatte ich regelmässig den selben Traum: Meine kleine Tochter steht in einem Liftschacht, der Lift kommt von oben und erdrückt sie. Ich stehe daneben, schreie, und kann nichts machen. Man muss kein Experte in Traumdeutung sein, um zu erkennen, was mich beschäftigte: Das neue Baby, das da kommt, lässt keinen Platz mehr fürs erste. Schaffe ich es irgendwie, beiden gerecht zu werden? Oder kommt eines sprichwörtlich unter die Räder?
Seit ein paar Wochen habe ich nun erneut einen wiederkehrenden Traum. Meine Tochter ist gestorben. Aber nicht das 15-jährige Mädchen, das sie heute ist, sondern das Kleinkind von früher. Ich sehe ihre Beerdigung, undefinierte Menschen sind in Schwarz gekleidet und kondolieren mir. Auch hier muss man kein Experte sein, um zu sehen, was mich beschäftigt. Denn selbst wenn beide meine Kinder längst keine Kleinkinder mehr sind, gilt es jetzt langsam ernst.
Denn Fakt ist: Am Ende der gerade begonnenen Dekade werden sie beide erwachsen sein. Und ich weiss: dieses Jahrzehnt wird für mich geprägt sein vom Loslassen. Will ich das? Kann ich das? In meinem tiefsten Inneren sträubt sich alles gegen diesen Gedanken. Aber eben – ich habe gar keine Wahl. Ich muss.
«Wenn ich heute zum letzten Dekaden-Wechsel zurückblicke, bin ich extrem dankbar. Denn das erinnert mich daran, was ich nicht mehr vermisse.»
Habe ich mich vor zehn Jahren als Kleinkind-Mami zum Jahrzehntwechsel eigentlich auch gefragt, wie meine Kinder als Teenager sein werden. Ob ich es schaffe, sie einigermassen heil durchs nächste Jahrzehnt zu kriegen? Ich habe mich gerade durch alte Fotos geblättert und die Antwort ist: nein. Ich hatte keine Zeit, da wir den letzten Jahrzehnt-Wechsel mit Junior auf der Notfallstation des Kinderspitals verbrachten. Ich bin bis heute ziemlich sicher, dass er das einzige Kind war und ist, das es schaffte, sich die Antenne der Fernsteuerung eines ferngesteuerten Autos so tief in den Zeigefinger zu bohren, dass man sie unter Vollnarkose herausoperieren musste. An Silvester.
Wenn ich heute zum letzten Dekaden-Wechsel zurückblicke, bin ich extrem dankbar. Denn das erinnert mich daran, was ich nicht mehr vermisse. Zum Beispiel die regelmässigen Besuche der Notfall-Station im Kinderspital. Und ganz viele andere Dinge. Das Gerenne zwischen Krippe, Kindergarten, Hort und Schule. Das Georganisiere, wenn man im Stau steckte und ein paar Minuten zu spät kam. Das Theater, wenn jemand beim Wochenend-Trip das Stofftier vergessen hatte (und das unendliche Drama, als ich es kurz vor Abflug am Flughafen verloren habe …).
«Und ich hoffe so sehr, dass ich dieses Loslassen-Ding einigermassen hinkriege. Wenns geht mit ein bisschen Würde. Und sonst halt ohne.»
Wenn ich also in zehn Jahren zurückblicke, werde ich mich auf die Dinge konzentrieren, die ich nicht vermisse. Das Gemotze beim Aufstehen. Das Gemotze beim Essen. Das Gemotze über die Schule. Das Gemotze überhaupt. (Oh mein Gott, ich BETE drum, dass sie dann nicht mehr über alles und jeden motzen …). Und ich hoffe so sehr, dass ich dieses Loslassen-Ding einigermassen hinkriege. Wenns geht mit ein bisschen Würde. Und sonst halt ohne. Was muss, das muss.
Mehr von Familien-Bloggerin Sandra C. lest ihr hier.