Mein Kind 2 ist nicht dafür bekannt, besonders begeisterungsfähig zu sein. Während seine Schwester für hundert Dinge gleichzeitig Feuer und Flamme ist, sind meinem Sohn die allermeisten Dinge im Leben recht egal. Wenn ihn aber mal etwas packt, kommt es nicht selten vor, dass er eine regelrechte Obsession entwickelt.
Erstmals geschah dies, als er gut zwei Jahre alt war. Da drehte sich seine Welt in erster Linie um Motorräder. Als das Kind entdeckte, dass es unterschiedliche Geschlechter gibt, verglich es sogar männliche Genitalien mit «Teffs». Und als es Velofahren lernte, bestand er darauf, einen Töff- statt eines Velohelms zu tragen.
Als das Kind sieben war, entdeckte es ein Brett, das seine Welt bedeutete: das Snowboard. Der Bub hatte da schon diverse sportlich Hobbys, und sein Skilehrer attestierte ihm beachtliches Talent auf zwei Latten. Aber ich hatte bis dahin noch nie erlebt, dass er sich in etwas so sehr reinkniete wie ins Snowboarden. Er fuhr unzählige Male den Hügel vor unserem Haus in den Bergen runter und lief wieder hoch, bis es stockdunkel war. Der Witz: Als das Kind dieses Brett richtig im Griff hatte, war die totale Besessenheit vorbei. Mein Sohn fährt heute zwar immer noch gern Snowboard, steht aber genauso gern wieder auf den Skiern.
Seither hat das Kind zwar immer wieder mal leichtes Interesse an etwas gezeigt – was Gott sei Dank auch zu einer Lehrstelle geführt hat –, aber seine letzte Obsession ist doch gut zehn Jahre her. Bis es vor einiger Zeit seinen Body entdeckte. Und das Fitnessstudio, wo der Junge seither mehr oder weniger täglich zu absolut absurden Zeiten hinrennt. Und regelmässig kommen per Post «Mass Gainer», also Nahrungsergänzungsmittel, mit denen er den Muskelaufbau fördern möchte. Ich verstehe ja, dass mein Sohn nicht unbedingt als «Lauch» (schlaksiger, dünner Mensch) durchs Leben gehen will, aber dass man so viel Energie aufs Zunehmen verwenden kann, ist für mich doch eher unbegreiflich.
«Kaum komme ich dieser Tage zur Haustür herein, schielt mein Sohn auf meine Autoschlüssel»
Seit kurzem macht allerdings ein neuer Spleen dem Muskelaufbau Konkurrenz – und der hat es in sich. Das Kind hat nämlich seit ein paar Tagen den Lernfahrausweis – und ins Büffeln für die theoretische Prüfung hat es sich fast so sehr reingesteigert wie damals beim Snowboarden. Kaum komme ich dieser Tage zur Haustür rein, steht mein Sohn breit grinsend vor, beziehungsweise über mir (er ist mittlerweile zwei Köpfe grösser und ein paar Schultern breiter als ich) und schielt auf meinen Autoschlüssel. Und dann fahren wir Runde um Runde um Runde. Um Runde um Runde. Um Runde. Dabei wird ihm weder langweilig, noch ermüdet er. Ich muss gestehen, dass er seine Sache gut macht nach dieser kurzen Zeit – aber ganz ehrlich: Ich würd lieber ein Buch lesen in meiner Freizeit.
Und obwohl ich sonst nicht so sentimental bin, trauere ich fast ein bisschen den guten alten Zeiten nach. «Magst du nicht mal wieder Snowobarden?», frage ich vom Beifahrersitz. «Es ist ja fast n0ch Sommer», meint das Kind verwirrt. Stimmt. «Oder ins Fitnessstudio?» – «Mach ich später. Zuerst fahren wir noch über den Berg, und dann hintenrum und wieder vorne durch. Du magst doch noch, oder?» «Ja klar», seufze ich. Was waren das doch für herrliche Zeiten, als er noch Motorräder mit Genitalien verglich. Ich hätte sie mehr schätzen sollen!