Liebes Komitee «Nein zur Ehe für alle»,
ich habe politisch vermutlich generell nicht das Heu auf der gleichen Bühne wie die meisten von euch. Aber ich kann vieles nachvollziehen. Ich verstehe zum Beispiel Angst vor Zuwanderung, auch wenn ich ihre Ablehnung nicht unterstütze.
Die Angst vor der «Ehe für alle» verstehe ich nicht. Was genau wird euch - oder uns - weggenommen? Eure Frauen werden nicht plötzlich lesbisch, weil sie die Gelegenheit haben, eine Frau zu heiraten. Niemand nimmt euch eure eigenen Kinder weg, weil Regenbogenfamilien legal sind. Nur weil andere Beziehungs- und Familienmodelle gelebt werden dürfen, bedeutet das nicht, dass das traditionelle Modell verschwindet. Wirklich - ich verstehs nicht.
«Kinder, die ohne Mutter oder Vater aufwachsen? Liebe Leute, das ist schon längst Realität - und zwar ohne «Ehe für alle». 40 Prozent aller Schweizer Ehen werden geschieden.»
Ihr zielt mit eurer Kampagne aufs Kindswohl. Über eure Wortwahl, die ich als zutiefst homophob empfinde («egoistische Homo-Adoptionen» - echt jetzt!), müssen wir gar nicht reden. Über den Inhalt dieser Aussagen sehr wohl. Kinder, die ohne Mutter oder Vater aufwachsen? Liebe Leute, das ist schon längst Realität - und zwar ohne «Ehe für alle». 40 Prozent aller Schweizer Ehen werden geschieden. Fast 15 Prozent aller Familienhaushalte mit Kindern sind Eineltern-Haushalte. 40 Prozent der geschiedenen Eltern teilen sich zwar die elterliche Sorge, aber nur 6 Prozent machen tatsächlich halbe-halbe bei der Kinderbetreuung. 83 Prozent der Kinder leben hauptsächlich bei der Mutter. All diese Kinder wachsen ganz oder teilweise ohne den einen Elternteil - meist den Vater - auf.
Und überlegt euch doch mal, wie das von euch so propagierte traditionelle Familienmodell aussieht - in einem Land, das von familienfreundlichen Strukturen nur träumen kann. Mama ist zu Hause, arbeitet vielleicht ein bisschen, Papa arbeitet. Zeit für die Kinder hat vielleicht mal abends, wenn er nicht zu müde ist, und am Wochenende. Und ihr schreit laut «Kinder brauchen Vater und Mutter»! Dann fangen wir doch mal bei unseren Strukturen an, und schauen dafür, dass Mütter UND Väter auch tatsächlich Zeit für ihre Kinder haben können.
«Kinder brauchen generell mehr als zwei Bezugspersonen. Und ob ihrs glaubt oder nicht - Leute aus der LGBT+ Community treiben sich äusserst selten in Sekten herum, die ausschliesslich aus ihrem eigenen Geschlecht bestehen.»
Natürlich ist es sehr wahrscheinlich, dass Kinder männliche und weibliche Bezugspersonen brauchen. Aber Kinder brauchen generell mehr als zwei Bezugspersonen. Und ob ihrs glaubt oder nicht - Leute aus der LGBT+ Community treiben sich äusserst selten in Sekten herum, die ausschliesslich aus ihrem eigenen Geschlecht bestehen. Und ich verrate euch noch was: diese Leute sind total normal. Sie arbeiten, kochen, essen, schauen TV, zahlen Steuern. Dass sie andere sexuelle Präferenzen haben als ihr, liebe Komitee-Mitglieder, spricht ihnen nicht die Fähigkeit ab, Kinder zu erziehen. Im Gegenteil. Kinder, die in Regenbogenfamilien aufwachsen, setzen sich früh mit wichtigen Themen wie Sozialverhalten, sozialen Strukturen, Rechte, Pflichten, Familie und Liebe auseinander. Weil es Themen sind, die angesprochen werden müssen, während in «normalen» Familien vieles einfach nie zur Sprache kommt. Klar werden sie gehänselt. Kinder sind kleine Bastarde und greifen einander immer da an, wo man sie offensichtlich treffen kann. Bei andern sinds die Zahnspange, ein Sprachfehler oder die falschen Klamotten.
Liebe Komitee-Mitglieder, ich bin mir ziemlich sicher, dass Kinder, die in Regenbogenfamilien aufwachsen, nicht unglücklicher sind als andere. Und was kann ein Kind schon mehr haben als das Wissen, wirklich gewollt zu sein? Nur eines: ein Heimatland, das ein bisschen Toleranz zeigt.