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Der ganz normale Wahnsinn

Hilfe, mein Kind will ins Ausland!

Die Tochter unserer Familienbloggerin liebäugelt mit einem Auslandaufenthalt. Obwohl diese ihre eigenen Erfahrungen diesbezüglich in ihrer Jugend niemals missen möchte, muss sie jetzt gestehen, dass ihr der Gedanke eigentlich gar nicht gefällt.

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Sandra Casalini Blog der ganz normale Wahnsinn

Home alone? Unsere Familienbloggerin fürchtet sich davor, ihre Kinder nicht mehr so oft zu sehen wie jetzt. 

Lucia Hunziker

Manchmal sagt man zu seinen Kindern Dinge, die sich später als sehr unüberlegt herausstellen. So sagte ich immer zu meinen Kindern, wenn sie je die Gelegenheit hätten, ins Ausland zu gehen, sollten sie es tun. Denn kaum etwas hat mich so geprägt in meiner Jugend wie mein Auslandaufenthalt.

Eine unvergessliche Erfahrung

Die Erfahrung, mich in einer neuen Familie, Schule, Umgebung, Kultur und Sprache integrieren zu müssen, hat mich vermutlich mehr gelehrt fürs Leben als alle Mathe- Deutsch- und Englischlektionen zusammen. Und: die Erfahrung, dass ich es schaffe, mich in einer neuen Familie, Schule, Umgebung und Kultur zu integrieren, mir Freundschaften, ein Leben aufzubauen, ohne anfangs die Sprache richtig zu sprechen, ohne jemanden zu kennen, hat mir mehr Selbstbewusstsein gegeben, als jede Therapie das gekonnt hätte.

«Sie will weg. Mein kleines Mädchen will weg. Was habe ich falsch gemacht?»

Soviel zu mir. Und jetzt kommt meine Tochter und legt mir Infomaterial zu Auslandaufenthalten auf den Tisch. «Ich nehm dich beim Wort», sagt ihr Blick. «Du bist erst sechzehn», sage ich. «Wie alt warst du?», fragt sie mich. «Siebzehn.» – «Wenn ich mich jetzt anmelde, gehe ich nächstes Jahr. Dann bin ich auch fast siebzehn.» Ohje. Sie will weg. Mein kleines Mädchen will weg. Was habe ich falsch gemacht?

Lust, die Welt zu entdecken

Ich weiss, dass ich nichts falsch gemacht habe. Auch wenn einer der Gründe, warum ich damals gehen wollte, die Scheidungsschlacht meiner Eltern war. Die eigentliche Triebkraft war die Lust auf Neues, die Sehnsucht nach dem Unbekannten, der Wille, Grenzen zu überschreiten, die Welt zu entdecken. Wenn meine Tochter all das auch fühlt, will – darf – ich sie nicht aufhalten. Schon gar nicht aus dem egoistischen Grund, sie dann nicht mehr so nah bei mir zu haben.

«Sie müsste notentechnisch wirklich sehr, sehr gut dastehen, damit sie überhaupt gehen dürfte. Ich traue mich fast nicht, dies zu denken – geschweige denn laut auszusprechen – aber irgendwie erleichtert mich das fast ein bisschen.»

Ausserdem gibt es ja heute ganz andere Möglichkeiten als damals. Der Kontakt zu meinen Liebsten beschränkte sich während meines Auslandaufenthaltes in Australien auf Briefe (per Post!) und wegen der Zeitverschiebung genau getimte Telefonanrufe. Ich erinnere mich an einen spontanen Anruf meines Vaters, bei dem ich weder kapierte, wer am Apparat war, noch, was er sagte, da für mich sowohl das Schweizerdeutsch als auch er so total aus dem Blauen kamen, dass mein Hirn irgendwie nicht nachkam. Er war danach tagelang am Boden zerstört, wie er mir später schrieb.

Andere technische Möglichkeiten

Solches würde sich mit Mail, WhatsApp, Facetime und so erübrigen. Wir würden uns vermutlich sogar öfter unterhalten, als wir das jetzt tun. Trotzdem blutet mir das Herz, beim Gedanken daran, mein «kleines Mädchen» weit weg zu wissen.

Nun ist es ja erstens so, dass Corona sei Dank überhaupt nicht klar ist, ob und wie solche Aufenthalte nächstes Jahr stattfinden können. Und zweitens gibt es von Seiten der Schule sehr viel strengere Auflagen als dies damals bei mir der Fall war. Das heisst, sie müsste notentechnisch wirklich sehr, sehr gut dastehen, damit sie überhaupt gehen dürfte. Ich traue mich fast nicht, dies zu denken – geschweige denn laut auszusprechen – aber irgendwie erleichtert mich das fast ein bisschen.

«Das mit dem Loslassen ist halt so eine Sache. Wenn es noch weit weg scheint, ist es einfach, grosse Töne zu spucken. Aber irgendwann kommt die Zeit, in der es ernst gilt.»

Eigentlich wollte ich mir dieses Jahr einen lange gehegten Wunsch erfüllen: Ich wollte meinen Kindern den Ort zeigen, der meine Jugend so geprägt hat, bevor sie erwachsen sind. Den Ort, den ich nach all diesen Jahren immer noch als Heimat empfinde. Nächste Woche wären wir nach Sydney geflogen. Es hat nicht sein sollen.

Ich wünsche meiner Tochter sehr, dass es für sie irgendwann auch einmal einen solchen Ort gibt. Aber eben – das mit dem Loslassen ist halt so eine Sache. Wenn es noch weit weg scheint, ist es einfach, grosse Töne zu spucken. Aber irgendwann kommt die Zeit, in der es ernst gilt. Vielleicht noch nicht heute. Aber spätestens morgen.

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Familienbloggerin Sandra C.
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Von Sandra Casalini am 3. Oktober 2020 - 17:00 Uhr