Kürzlich war ich in der Apotheke, um ein Medikament für Kind 1 zu holen. Ich reichte das Rezept und meine Krankenkassen-Karte über den Tresen. Die Mitarbeiterin stutzte, da nicht der gleiche Vorname draufstand, und fragte: «Sind Sie ihre gesetzliche Vertretung?» – «Ja», sagte ich. «Beziehungsweise nein. Sie ist erwachsen.» Der Satz klingt immer noch unglaublich komisch in meinen Ohren, obwohl Kind 1 nun schon seit fast einem ganzen Jahr laut Gesetz mündig ist. Aber ist meine Tochter erwachsen?
Was heisst denn das überhaupt? Ich konsultiere Wikipedia für eine Definition: «Allgemein geht man davon aus, dass Erwachsene jene notwendigen Fähigkeiten und Kenntnisse erworben haben, die sie befähigen, die für ihr Leben und Fortkommen notwendigen Entscheidungen eigenverantwortlich zu treffen.»
Nun, Kind 1 hat mittlerweile tatsächlich die Kenntnis erworben, dass seine Schulnoten etwa in dem Ausmass steigen, wie seine Absenzen sinken, weshalb es deutlich mehr anwesend war im Unterricht als auch schon, und das Semester am Gymnasium ziemlich locker bestand. Es hat die Fähigkeit, einen Geschirrspüler zu bedienen, allerdings trifft es noch eher selten die Entscheidung, das Geschirr in diese Maschine zu räumen und sie laufen zu lassen. Ähnlich verhält es sich mit der Waschmaschine. Da fällt ihm die Entscheidung, diese zu füllen, etwas leichter, zumal es wesentlich unangenehmer ist, keine saubere Unterwäsche mehr zu haben als kein sauberes Besteck (das man zur Not ja abspülen kann).
Seit kurzem weiss Kind 1 auch, wie man eine Steuererklärung ausfüllt und (online) einreicht. Und es hat Kenntnis davon, dass man als Erwachsene die Pflicht hat, dem Staat 24 Franken pro Jahr zu zahlen, auch wenn man keinen Rappen verdient. Zudem hat es die Erfahrung gemacht, dass einen Mütter dazu zwingen können, mühsame Formulare für die Krankenkasse auszufüllen, in der Hoffnung auf eine Prämienverbilligung, solange man besagte Prämie nicht selbst berappt.
«Was meine Tochter schon vorher wusste: Dass man zu jeder Tages- und Nachtzeit Mama anrufen und ihr das Herz ausschütten kann, egal wie erwachsen man ist.»
Zu den ebenfalls erst gerade kürzlich erworbenen Kenntnissen von Kind 1 gehört diejenige, dass man Dinge, an denen das Herz hängt – zum Beispiel Schmuck – im Flugzeug im Handgepäck transportiert, da aufgegebene Gepäckstücke öfter mal verloren gehen, gerade zur Sommerferienzeit. Was meine Tochter schon vorher wusste: Dass man zu jeder Tages- und Nachtzeit Mama anrufen und ihr das Herz ausschütten kann, egal wie erwachsen man ist, und dass es einem danach besser geht, auch wenn Mama nicht viel machen kann.
Ob ich die gesetzliche Vertretung bin von Kind 1? Nein, seit einem guten Jahr bin ich das nicht mehr. Ich bin sein Bankomat, seine Köchin, sein Waschsalon, sein Lifecoach, seine Frau für Notfälle. Denn so richtig erwachsen ist das Kind noch lange nicht. Aber es geht unaufhaltsam auf dieses Erwachsenenleben zu, und ich weiss nicht, wer von uns beiden sich mehr davor fürchtet, dass Kind 1 am Ziel ankommt. Zum Glück ist dieses noch in einiger Ferne – zumindest solange sein Kuscheltier noch mit in die Ferien muss. Im Handgepäck.