Schon als meine Kinder klein waren, war es der Horror für mich, wenn sie von anderen Kindern geplagt wurden. Meine Tochter, die als kleines Mädchen zwar viele Freunde hatte, sich auf dem Spielplatz aber immer alles wegnehmen liess, hätte ich manchmal am liebsten angeschrien: «Wehr dich doch!» Mein Sohn war bekanntlich eher auf der anderen Seite.
Das war zwar extrem anstrengend und ich fragte mich zuweilen täglich, was ich falsch gemacht habe, aber hin und wieder erwischte ich mich auch beim Gedanken «eigentlich ist mir fast lieber, er ist der, der dreinschlägt, statt der, der immer geschlagen wird.»
«Von Mobbing spricht man, wenn die Angriffe systematisch und häufig sind.»
Was selbstverständlich auch Quatsch ist, ich fände ein Kind zu haben, das mobbt, ebenso schlimm wie eines, das gemobbt wird. Zum grossen, grossen Glück habe ich heute keines von beidem, wofür ich unendlich dankbar bin.
Denn Geschichten wie die von Tara machen mich betroffen. Das Mädchen wird so fest gemobbt, dass es sich tothungern will. Erst als die Schulpsychologin wegen ihres drastischen Gewichtsverlusts Alarm schlägt, von Symptomen einer Essstörung und suizidalen Gedanken spricht, passiert etwas.
Ein Besuch bei der Schulsozialarbeiterin macht das Mobbing zuvor sogar noch schlimmer. Auch Gespräche in der Klasse halfen nichts, nicht einmal ein Besuch des Jugenddienstes der Polizei. Die Schule lässt verlauten, sie habe nichts falsch gemacht, denn «gemäss Fachdefinition» habe es sich nicht um Mobbing gehandelt.
Ich weiss nicht, was für eine Fachdefinition der Schule Wiesendangen vorliegt. Ich habe folgende gefunden: Von Mobbing spricht man, wenn ...
… sich ein Konflikt verfestigt hat
… die angegriffene Person unterlegen ist
… die Angriffe systematisch und häufig sind
… die Angriffe über längere Zeit geschehen
… die gemobbte Person kaum die Möglichkeit hat, aus eigener Kraft der Situation zu entkommen
… Ziel der Angriffe der Ausschluss aus der Klassengemeinschaft ist
Tara wird von ihren Klassenkameraden «Rasenmäher» genannt, weil sie vegan lebt. Am Mittag wechseln sie den Tisch, wenn sich das Mädchen setzt. Im Unterricht wird sie blöd angemacht. All das über Monate. Schliesslich wirft ihr ein Klassenkamerad gar Knallkörper in die Haare, einer schreibt im Klassenchat «Bring di umm»! Genau das sieht Tara irgendwann als letzten Ausweg aus ihrer hoffnungslosen Situation.
«Ich werde immer lieber einmal zu oft hinschauen als einmal zu wenig.»
Ich muss zugeben: Es ist nicht immer einfach, zu unterscheiden, was nun Mobbing ist und was nicht. Die Kids kommunizieren zuweilen in einer Art und Weise, die für uns Eltern schwer nachvollziehbar ist.
Ich habe schon mehrfach das Gespräch mit meiner Tochter gesucht, weil ich zum Beispiel gesehen habe, dass jemand eines ihrer Bilder auf Instagram mit «fett» oder «blöd» kommentierte. Sie lachte mich aus. «Der ist doch nur ein Spasti, Mann, ich kommentiere dem seine Bilder auch so, das macht man halt.» Ach so.
Genau wie sie und ihre Freundinnen sich gegenseitig «Schlampe» oder «Bitch» nennen. Oder dass man an der Klassenparty ein Spiel macht, bei dem man sich gegenseitig schlagen darf. Das finden sie lustig. Das bedeutet heutzutage Freundschaft, offenbar.
Naja… Da sie immer noch halbwegs gern zur Schule geht (beziehungsweise nicht weniger ungern als zuvor), immer noch mehr lacht als weint, sich mit Freunden trifft und ihren Hobbys nachgeht, mit Appetit isst und mit Begeisterung plaudert, gehe ich davon aus, dass sie tatsächlich nicht gemobbt wird.
Aber: Ich werde immer lieber einmal zu oft hinschauen als einmal zu wenig. Und das würde ich auch von den Schulen erwarten. Ich hoffe, die haben die Berichterstattung über den «Fall» von Tara genau studiert – und daraus gelernt!