Wenn ich an meine Schulzeit denke, denke ich an Herrn Eschenmoser. Unser Deutsch- und Geschichtslehrer war ein kleiner, knuffiger Mann mit Hornbrille und Bauch. Er schleppte stets einen Stapel Zeitungen und Bücher mit sich herum. Während der Geschichtsstunde setze er sich manchmal aufs Lehrerpult und seine Beine baumelten über dem Boden. Dann lasen wir Texte aus der NZZ und sprachen darüber, warum die Welt so ist, wie sie ist. Herr Eschenmoser war ein grossartiger Geschichtenerzähler. Ein Menschenfreund. Ein gutmütiger, fantasievoller, leidenschaftlicher Pädagoge. Erwähnte ich schon, dass Herr Eschenmoser mein Lieblingslehrer war?
«Der erste Schritt zum Lernen ist die Liebe zum Lehrer» schrieb der Theologe Erasmus von Rotterdam vor 500 Jahren auf die Frage, was einen guten Lehrer auszeichnet. Helle Jensen, die dänische Familientherapeutin und Wegbegleiterin des kürzlich verstorben Jesper Juul, sagt es so: «Lehrerinnen und Lehrer müssen sich stets bewusst sein, dass sie Verantwortung für die Beziehung zu ihren Schülerinnen und Schülern tragen. Eine gute Lehrperson spürt, wie es einem Kind geht und was es braucht.»
Für mich persönlich ist ein guter Lehrer jemand, der erklärt, begleitet, anregt, führt. Der ermuntert, tröstet, sich für die Neigungen und Probleme seiner Schülerinnen und Schüler interessiert, etwas erwartet und einfordert, Widerstand aushält, klar kommuniziert, sich um ein entspanntes Verhältnis zu den Eltern seiner Schüler bemüht und seinen Beruf mit Freude und grosser Leidenschaft ausübt.
Ich gebe gerne zu: Ich habe einen Höllenrespekt vor dem Lehrerberuf. Für mich ist es der wichtigste Beruf der Welt. Lehrer sein bedeutet: leben im Auge des Orkans. Zuerst kam die Inklusion, dann die Digitalisierung. Der Anteil an verhaltensauffälligen Jugendlichen pro Klasse steigt, die Zahl der Eltern, die zum Elterngespräch mit dem Anwalt erscheinen, auch. Und schliesslich das Schul-Bashing; Inzwischen fühlen sich Neurologen, Psychologen und Psychiater landauf landab bemüssigt, über unser Bildungssystem Kritik auszukübeln. Michael Winterhoff glaubt, dass «Deutschland verdummt», Richard David Precht bezeichnet Schulen als «Lernfabriken» und der Gymnasiallehrer Oliver Hauske fordert nichts weniger als die «Abschaffung der Schule», weil sie ein Verrat an unseren Kindern sei.
Hoppla.
«Das Schulsystem ist nicht kaputt.»
Fabian Grolimund und Stefanie Rietzler
Wie steht es tatsächlich um unsere Schulen? Werden Kinder durch das heutige Bildungsystem wirklich entmutigt, desillusioniert, deprimiert, unterdrückt und betrübt? Wir haben die Lernexperten Fabian Grolimund und Stefanie Rietzler (Akademie für Lerncoaching, Zürich) um eine Einschätzung gebeten. Ihr Fazit macht Mut: «Das System ist nicht kaputt. Und es braucht auch keine Revolution. In öffentlichen Schulen tut sich einiges.» Alles rund ums Thema «Wie Schule gelingt» findet sich in der September-Ausgabe des Schweizer Eltern Magazins Fritz+Fränzi.
Interessant: Fragt man Kinder und Jugendliche nach ihren Vorstellungen einer guten Schule und eines spannenden Unterrichts, decken sich diese meist mit den Visionen vieler Lehrpersonen: Keine Hausaufgaben, keine Noten, späterer Schulbeginn, mehr Arbeit in kleinen Gruppen, Exkursionen, lokale Einsätze für die Umwelt, eine inspirierende Lernatmosphäre mit Freiräumen und Mitbestimmungsrecht ohne Angst vor Abwertung.
Fakt ist auch: Ein noch so gutes Schulsystem funktioniert nicht, wenn die Lehrer ihre Verantwortung nicht wahrnehmen. Wenn sie nicht bereit sind, in Führung zu gehen. Dagegen wird eine Brennpunktschule zur Vorzeigeschule, wenn Lehrpersonen verständnisvoll, geduldig und humorvoll handeln, eine innere Haltung zeigen, sich aktiv um ein gutes Klassenklima bemühen, Zeit und Energie in die Beziehung zu den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen investieren. Wenn sich Lehrer immer wieder von Sachzwängen freimachen und den eigenen Handlungsspielraum ausloten, um die Schule in eine positive Richtung zu entwickeln.
Und wie bringen Eltern die Schule ihres Kindes in Bewegung? Indem sie nicht gegen das System, sondern für die Schule kämpfen. Indem sie nicht schlecht über die Schule oder die Lehrer sprechen, sondern sich um eine Kultur von gegenseitiger Wertschätzung bemühen – der Grundlage für erfolgreiches nachhaltiges Lernen.
Wie das konkret geht? Nun, wann haben sie das letzte Mal der Lehrerin oder dem Lehrer ihres Kindes danke gesagt? Danke für die Leidenschaft, ihrem Dreikäsehoch die Neuner-Reihe beizubringen? Danke für die Geduld mit ihrer pubertierenden Tochter, deren Hormone seit Wochen verrückt spielen? Danke für die Bereitschaft, auch mit sperrigen Eltern zusammenzuarbeiten?
Eben.
Wollen sie die Lehrperson ihres Kindes ebenfalls zum Strahlen bringen? Dann greifen sie zum Hörer oder in die Tasten!
Nehmen sie sich doch vor, wenigstens einmal im Jahr der Lehrperson ihres Kindes eine ausschliesslich positive Nachricht zu schicken. Meine Frau und ich haben das neulich ausprobiert und der Lehrerin unseres Sohnes nach den Sommerferien eine Mail geschrieben. «Wir wünschen ihnen und der ganzen Klasse ein glückliches und vielseitiges neues Schuljahr. Wie schön, dass sie unseren Sohn so differenziert wahrnehmen. Lassen sie uns gerne weiterhin in Kontakt bleiben.»
Sie glauben ja gar nicht, wie sehr sich die Lehrerin unseres Sohnes über diese Nachricht gefreut hat. Wollen sie die Lehrperson ihres Kindes ebenfalls zum Strahlen bringen? Dann greifen sie zum Hörer oder in die Tasten!
Für SI Family hat Papablogger Nik Niethammer auch über gute Väter und Erziehung geschrieben.
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi ist das meistgelesene Elternmagazin der Schweiz. Es wird seit 2001 von der gemeinnützigen Stiftung Elternsein herausgegeben. Das Magazin erscheint zehn Mal im Jahr. Die aktuelle Ausgabe (Nummer 9 vom September 2019) beschäftigt sich mit dem Thema Wie Schule gelingt.
Auf www.fritzundfraenzi.ch sind auch frühere Dossiers einsehbar. Unter anderem zu den Themen Erziehen ohne Strafe, Väter oder Trennung.