Neulich schrieb mir eine Mutter: «Mein Sohn ist drei Jahre alt und ich bin überfordert. Er beschäftigt sich nie mit sich selbst und bleibt so lange bei mir, bis ich fertig bin mit meiner Aufgabe. Ein ruhiges Gespräch mit meinem Mann ist nicht möglich, weil unser Sohn sich ständig in den Vordergrund drängt, sobald es nicht um ihn geht. Wie setze ich ihm Grenzen, ohne ihn zurückzuweisen oder ihm das Gefühl zu geben, nicht wichtig zu sein?»
Nun, ich bin Journalist und kein Familientherapeut. Aber als Vater von zwei kleinen Strolchen, neun und sieben Jahre alt, einigermassen praxiserprobt. Ich antwortete der Mutter, dass ich ihr rate, ihre Elternrolle wahrzunehmen und nicht Kollegin ihres Sohnes sein zu wollen. «Schenken Sie Ihrem Sohn weniger Aufmerksamkeit. Das ist nicht einfach, aber Sie tun sich und ihm damit einen Gefallen.»
«Welcher Vater gibt schon offen zu, dass ihn die Kinder manchmal überfordern?»
Elternsein ist anstrengend, keine Frage. Aber welcher Vater gibt schon offen zu, dass ihn die Kinder manchmal überfordern? Wer redet darüber, dass ihn öfter das Gefühl beschleicht, als Mutter oder Vater nicht zu genügen? Und wer traut sich in einer netten Runde mit Freunden den Satz auszusprechen: «So habe ich mir das mit den Kindern nicht vorgesellt?»
Dabei wäre genau das wichtig. Ich habe kürzlich an einer Veranstaltung davon erzählt, wie sehr mich das ständige Gezänke und Gezerre unserer Kinder nerve. Und wie sehr mich die Situation fordere, nicht zu wissen, wann der richtige Zeitpunkt ist, dazwischen zu gehen. «Erst, wenn Blut fliesst», riet mir ein Vater. «Geschwisterstreit ist wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung», gab ein Kursteilnehmer zu bedenken. «Wenn es dich stresst, unternimm was», sagte einer dritter. «Manchmal braucht es in der Erziehung harte Sanktionen».
Wie geht Erziehung? Wie halte ich den Druck aus, etwas falsch zu machen? Wie schaffe ich den Spagat zwischen Beruf und Familie? Wie halte ich alle Bälle in der Luft: Schule, Elternabende, Fahrdienste, Kindergeburtstage, Musikunterricht, Fussballtraining?
Das sind Fragen, mit denen ich mich beruflich und privat beschäftige. Ich glaube: Elternsein erfordert heute vor allem Managerqualitäten. Humor. Und gesunden Menschenverstand. Für besonders anstrengende Zeiten ist mir dieser «Notfallzettel» ein verlässlicher Begleiter:
- Ich bin nicht allein mit dem Gefühl, dass das Leben mit Kindern oftmals anstrengend, fordernd und frustrierend ist. Es ist sehr tröstlich zu wissen, dass es anderen Eltern genauso geht.
- Ich muss nicht perfekt sein. Das Glück unserer Kinder hängt nicht allein von mir ab.
- Ich halte mir vor Augen, dass die Liebe zum Partner mindestens so wichtig ist wie die Liebe zu unseren Kindern. Die Liebe zu einem Kind ist instinktiv und immer da, die Liebe zum Partner muss stets von neuem erarbeitet werden.
- Ich versuche, unsere Kinder nicht anzubrüllen. Also nicht zu oft. Höchstens dreimal im Monat. Sonst verpufft die Wirkung.
- Ich denke an den dänischen Familientherapeuten Jesper Juul, der einmal gesagt hat: «Auch gute Eltern machen 20 Fehler am Tag.»
- Ich erinnere mich an unseren Kinderarzt, der auf die meisten unserer besorgten Fragen antwortete: «Das ist völlig normal.»
- Ich wiederhole, wenn es besonders mühsam ist, mantramässig: «Es ist nur eine Phase. Es geht vorbei.»
- Ich halte mich an das Lieblingsmotto meiner Frau: «Loslassen. Entspannen. Einverstanden sein.»
Ich versuche unseren Kindern ein guter Vater zu sein. Ein grosses Wort, ich weiss. Ein guter Vater sein heisst für mich, seine Kinder bedingungslos zu lieben. Ohne Kompromisse. Ohne Grenzen. Egal, wie sehr sie gerade nerven. Egal, ob sie einem den Schlaf rauben oder einen vorpupertären Schub durchleben. Bedingungslose Liebe der Eltern stärkt die Selbstliebe des Kindes. Sie ist der wichtigste Schlüssel für eine glückliche Kindheit.
Ein guter Vater sein heisst auch, mit meiner Erziehung dazu beizutragen, dass unsere Kinder als Erwachsene einmal sagen können: Ich kenne mich, ich kann mich selbst annehmen, ich weiss, was ich möchte, ich bin in der Lage, zu anderen Menschen gute Beziehungen aufzubauen und die Welt um mich herum in positiver Weise mitzugestalten.
Kürzlich fragte ich unsere Tochter beim Abendessen, wen sie in ihrer Klasse besonders gerne mag. «Die Laura find ich nett», begann sie, «die Emma hat viele Spielsachen und Lenas Puppen sind toll. Aber am liebsten» – und es kam wie aus der Pistole geschossen – «am liebsten mag ich mich.»
Der Satz ging runter wie Honig. Ich hätte als Vater schmelzen können. Offenbar gelingt es uns Eltern, unserer Tochter zu vermitteln, dass wir sie so lieben wie sie ist. Und weil sie so ist.
Und wenn ich mich frage, ob ich alles richtig mache als Vater und Partner, wenn mich Zweifel überkommen, wie ich Elternsein und Job unter einen Hut bringe, und wenn mich unsere kleinen Strolche mal wieder bis auf die Knochen gefordert haben, dann gehe ich auf Zehenspitzen ins Kinderzimmer, wo sie sich in ihren Betten freigestrampelt haben. Wenn ich die beiden wohlig warmen kleinen Menschlein in ihren Pyjamas zudecke und leise die Zimmertüre schliesse, überkommt mich ein Gefühl bedingungsloser Liebe.
Und alles ist gut.
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi ist das meistgelesene Elternmagazin der Schweiz. Es wird seit 2001 von der gemeinnützigen Stiftung Elternsein herausgegeben. Das Magazin erscheint zehn Mal im Jahr. Die aktuelle Ausgabe (Nummer 5 vom Mai 2019) beschäftigt sich mit dem Thema Kinderängste.
Auf www.fritzundfraenzi.ch sind auch frühere Dossiers einsehbar. Unter anderem zu den Themen Väter, Hausaufgaben, Kiffen und Achtsamkeit.