Das mit der Erziehung hat Zeit, dachte ich, als ich zum ersten Mal Vater wurde. Am Anfang ist ganz viel Geschmuse und Gedüdel, Staunen, Verzückung, Liebe. Und so war es auch: Unser Bub versetzte uns Eltern in einen Dauerglücksausnahmezustand. Nur: Die Sache mit der Erziehung, die kam schneller als ich dachte.
Über Nacht waren sie da, die vielen Fragen, die Eltern umtreiben, quälen, manchmal zur Verzweiflung bringen: Wie sich verhalten, wenn der Bub mit dem Essen spielt, seiner Schwester ins Gesicht boxt, sein Zimmer nicht aufräumt? Was tun, wenn die Tochter am Frühstückstisch ohne Ende trödelt, die Puppenstube unter Wasser setzt, beim Haarewaschen das ganz grosse Fass aufmacht?
Erziehung ist trial and error, Versuch und Irrtum. Ab und an geht ein Plan auf und man ist einfach nur stolz, es geschafft zu haben. Um am nächsten Tag ermattet festzustellen: Alles ist wie immer. Das erste Kind quengelt beim Zähneputzen, während das zweite mit Matschschuhen durchs Wohnzimmer stapft. Musikinstrumente werden nur unter grösstem Protest geübt, liebevoll zubereitete Speisen mit Todesverachtung zurückgewiesen, das Zauberwort Danke bleibt ein Fremdwort.
Was also läuft schief? Sollten wir Eltern noch konsequenter sein? Unsere Kinder mehr in die Pflicht nehmen, stärker auf Eigenverantwortung setzen? Oder ist das Verhalten unserer kleinen Strolche einfach nur normal, weil Kinder so sind wie sie sind: ebenso wunderbare Geschöpfe wie kleine Tyrannen und Plagegeister.
Wie also geht Erziehung? Wie findet man die ideale Balance zwischen Liebe und Strenge? Wie viel Sorge ist angebracht, wie viel Vertrauen nötig? Im Juni-Heft von Fritz+Fränzi haben wir 100 Fragen zusammen gestellt und von 29 namhaften Expertinnen und Experten beantworten lassen. Entstanden ist das umfangreichste Dossier in der Geschichte unseres Elternratgebers. Eine Antwort ist bei mir besonders hängen geblieben: die von Kolumnist Mikael Krogerus in seinem wunderbaren Essay «Die Sache mit den Kindern»: «Heute», schreibt der zweifache Familienvater, «denke ich, gilt in der Erziehung: Das Gegenteil ist auch immer falsch.»
Betrachtet man die Erziehungsstile der letzten 70 Jahre, fällt auf: Es war früher nicht leichter, Kinder zu erziehen. Die Erziehenden sind die Sache einfach anders angegangen. Bis 1960 galt: Die Eltern bestimmten die Regeln, mit dem Kind verhandeln galt als Tabu. Zwischen 1970 und 1990 änderte sich der Erziehungsstil fundamental: Kinder durften die Familienregeln mitaushandeln, die Familienzeit wurde kindbezogen gestaltet. Ab 2000 schliesslich gilt: Eltern diskutieren alles mit ihren Kindern, beziehen sie in Entscheidungen mit ein, beraten gemeinsam über ihr Fehlverhalten.
«Heute haben Eltern eine ganz andere Bindung zu ihren Kindern», sind sich Experten und Expertinnen wie die deutsche Erziehungswissenschaftlerin Jutta Ecarius von der Universität Köln einig. «Mütter und Väter sind für ihre Kinder die wichtigsten Ansprechpartner, sie sind Berater und Wegbegleiter, Vertrauens-, statt klassische Respektspersonen.» Keine Frage, das sei mitunter anstrengend, sagt Ecarius. «Die neuen Eltern machen ihre Sache aber ziemlich gut.»
Uff! Das zu hören tut gut. Denn Hand aufs Herz: Wie oft hadert man als Papa oder Mama mit der Frage, ob denn vielleicht zu viel beschützen, zu viel mitentscheiden lassen, zu viel diskutieren dem Heranwachsen des Kindes eher im Wege steht. Jutta Ecarius beruhigt: «Eltern, die für ihre Kinder Berater sein wollen, interessieren sich wahrhaftig für deren Leben». Das wiederum sei eine der Grundvoraussetzungen für die physisch und psychisch gesunde Entwicklung eines Kindes.
Diesen Satz im Hinterkopf versuche ich als Vater tapfer weiter Tag für Tag den Spagat: gleichzeitig konsequenter Erzieher und vertrauensvoller Partner meiner Kinder zu sein, sie liebevoll zu begleiten, stets ihre Bedürfnisse im Auge zu behalten, ihr mitunter ... nun ja: gewöhnungsbedürftiges Verhalten nicht persönlich zu nehmen, mich in ihrer Gegenwart stets menschlich und sozial zu verhalten, nicht zu schimpfen. Oder zumindest nicht zu oft.
Was tröstet mich, wenn mir der ständige Geschwisterstreit trotzdem den letzten Zahn zieht, wenn ich laut werde und Konsequenzen androhe, sie aber nicht umsetze, und wenn ich mir am Ende eines Tages mal wieder eingestehen muss, es ordentlich vergeigt zu haben? Es sind die Worte von Philipp Ramming, Kinder- und Jugendpsychologe, der einmal gesagt hat: «Erziehung ist Scheitern auf Raten. Aber scheitern Sie mit Würde und Eleganz.»
Für SI Family hat Papablogger Nik Niethammer auch zum Thema Kinderängste geschrieben. Und ein Notfallblatt für gestresste Eltern verfasst.
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi ist das meistgelesene Elternmagazin der Schweiz. Es wird seit 2001 von der gemeinnützigen Stiftung Elternsein herausgegeben. Das Magazin erscheint zehn Mal im Jahr. Die aktuelle Ausgabe (Nummer 6 vom Juni 2019) beschäftigt sich mit dem Thema Erziehungsfragen.
Auf www.fritzundfraenzi.ch sind auch frühere Dossiers einsehbar. Unter anderem zu den Themen Resilienz, Trennung und Hochbegabung.