Neulich fragte ich unsere achtjährige Tochter, wen sie von ihren Freundinnen und Freunden besonders gerne mag. «Also Lena und Lisa sind nett, die Anna hat tolle Spielsachen und der Emil hat mich schon mal richtig hochgehoben», kam es ganz spontan. Dann schaute sie mich mit grossen Augen an: «Und weisst du, wen ich am liebsten mag? Mich!»
Es gibt wenige Dinge, die Eltern glücklicher machen, als wenn das Kind mit sich und der Welt im Einklang ist. Wenn es zu Kindergeburtstagen eingeladen wird, nicht gehänselt oder gemobbt wird. Und wenn es auch schwierige Momente meistert, mit Enttäuschungen, Frust und Niederlagen umzugehen weiss. «Resilienz» nennt die Wissenschaft diesen besonderen Schutz der Seele. Sie hilft uns, auch grosse Herausforderungen zu bewältigen, an schweren Krisen nicht zu zerbrechen.
Die Resilienzforschung ist noch relativ jung: Erst seit dem Zweiten Weltkrieg befassen sich Forscher intensiv mit der Frage, was uns im Umgang mit Belastungen schützt und wie wir Wohlbefinden erlangen. Was man heute mit Sicherheit weiss: Resiliente Menschen besitzen eine ausgeprägte Selbstwahrnehmung, sie können ihre Gefühle regulieren, Probleme analysieren und lösungsorientiert bewältigen. Insbesondere können sie negative Gedanken vergleichsweise gut aushalten und ablegen; sie fokussieren sich auf ihre Kräfte, sind in der Regel optimistisch und wenig ängstlich.
Interessant ist die Frage, welchen Einfluss ein geringes positives Selbstbild auf die individuelle Resilienz hat. Fest steht, dass ein niedriges Selbstwertgefühl eher zu Problemen in Beziehungen, in der Schule und am Arbeitsplatz führt. Und für die Entstehung von Depressionen mitverantwortlich ist.
Diesem Risikokapital lässt sich mit der Steigerung des Selbstwertgefühls entgegenwirken. Wer sich selbst liebt, akzeptiert seine eigene Persönlichkeit mit all ihren Facetten – unabhängig von äusserem Applaus. Menschen mit einer positiven Innensicht nehmen selbst schwierige Situationen als weniger bedrohlich wahr und sind so handlungsfähiger. Ihr Leitsatz lautet: Davon geht die Welt nicht unter, denn ich bin grundsätzlich in Ordnung. Menschen mit einem niedrigen Selbstwertgefühl dagegen geben sich meist selbst die Schuld für Krisen und begünstigen so die eigene Verletzbarkeit.
«Ein gutes Selbstwertgefühl zu haben bedeutet, sich mit all seinen Stärken und Schwächen anzunehmen.»
Ulrich Orth, Entwicklungspsychologe
Wie aber gelingt es einem Menschen, sich selbst zu mögen? Die gute Nachricht: Das Selbstwertgefühl ist zwar zu einem Teil angeboren, allerdings spielen Umweltfaktoren eine grössere Rolle als die Gene. «Soziale Beziehungen sind der bestimmende Faktor für den Selbstwert. Sie sind wichtiger als Leistung, Noten, Beruf oder Prestige», sagt der Berner Entwicklungspsychologe Ulrich Orth in der Dezember-Ausgabe des Schweizer ElternMagazins Fritz+Fränzi. «Ein gutes Selbstwertgefühl zu haben bedeutet, sich mit all seinen Stärken und Schwächen anzunehmen.»
Welches Verhalten hat nun einen positiven Effekt auf das Selbstwertgefühl? Wie können Kinder diesen Schutzfaktor erwerben? Und wie können Eltern sie dabei unterstützen? Meine drei wichtigsten Tipps:
- Wir sollten uns stets vor Augen halten: Pro Kritik braucht es fünf positive Aussagen, damit unser Kind wieder ins Gleichgewicht kommt.
- Wir sollten uns stets fragen: Welche positiven Charaktereigenschaften hat mein Kind? Und wofür interessiert es sich besonders? Diese Stärken gilt es zu loben und zu fördern statt auf den Schwächen herumzureiten.
- Wir stärken das Selbstvertrauen unseres Kindes eher, wenn wir es für seine Bemühungen und Strategien loben anstatt für seine Erfolge.
Zugegeben, auch mir gelingt das längst nicht immer. Aber ich bemühe mich redlich. Kürzlich zeigte mir meine Tochter voller Stolz ihre Waldhöhle, die sie zurzeit mit ihrer besten Freundin baut. Ich wollte gerade zu einem überschwenglichen Lob ansetzen, hielt mitten im Satz inne und fragte stattdessen interessiert nach, wie sie denn das Dach aus Ästen und Zweigen konstruiert hätten und ob es auch einem plötzlichen Wintereinbruch standhalten würde. «Mann, was fragst du denn für Sachen», entgegnete meine Tochter leicht genervt und warf ihrer Freundin einen vielsagenden Blick zu. «Mein Papi hat eben von Waldhöhlen keine Ahnung.»
Für SI Family hat Papablogger Nik Niethammer auch über Schule und ein Notfallblatt für gestresste Eltern geschrieben.
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi ist das meistgelesene Elternmagazin der Schweiz. Es wird seit 2001 von der gemeinnützigen Stiftung Elternsein herausgegeben. Das Magazin erscheint zehn Mal im Jahr. Die aktuelle Ausgabe (Nummer 12 vom Dezember 2019/Januar 2020) beschäftigt sich mit dem Thema Selbstliebe.
Auf www.fritzundfraenzi.ch sind auch frühere Dossiers einsehbar. Unter anderem zu den Themen Freundschaft, Geschwister oder Vereinbarkeit.