Die Zeit ist ein hinterhältiges Biest. Sie scheint uns geistig reifen zu lassen, um im Gegenzug den Körpersäften den Hahn zuzudrehen. Ich finde sowieso, die Zeit ist nie dann zur Stelle, wenn man sie braucht – aber das wäre wiederum ein anderes Thema.
Nun, ob es uns in den Kram passt oder nicht, wir schreiten während unseres Lebens in Richtung Tod. Und Mama Natur versucht uns zunehmend etwas madig zu machen, indem sie nach und nach unsere Augen, Zähne und Gelenke erodieren und eben die Haut erschlaffen lässt. Irgendwann wird es dann endgültig heissen: Adios Amigos!
«Ich glaube an ein Leben vor dem Tod»
Frieden ist ein mehr als positives und angenehmes Wort und ebenso der Hof. Als wortsensibler Mensch assoziiere ich behagliche Bilder dazu. Wenn man also beide zu einem einzigen Wort zusammenfügt, klingt dies nach wohliger Geborgenheit und gutem Aufgehobensein. Wer möchte sich nicht in einem friedlichen Hof zur Ruhe legen? Trotzdem kann ich nicht sagen, ob meine Überreste dereinst auf einem Friedhof eingetopft werden. Denn dies entscheide ich bestimmt nicht selber. Regie führen und mir Wünsche erfüllen lassen tue ich zu Lebzeiten – alles andere erscheint mir paradox, da ich ja nichts mehr davon mitkriege. Und sollte ich dereinst doch noch in irgendeinem anderen Aggregatszustand in höheren Sphären umherrauschen, werde ich wohl andere Dringlichkeiten haben, als zu überprüfen, ob meinem irdischen Ego Genüge getan wird.
«Vor dem Ego kommt die Verantwortung»
Ich glaube an ein Leben vor dem Tod. Mit grosser Wahrscheinlichkeit werde ich nach dem Sterben tot sein. Da ich vermutlich und hoffentlich vor meiner Tochter erblassen werde, wird sie wohl diese Entscheidungen treffen, denn sie muss mit dem Abschied klarkommen – nicht ich. Sie wird die Trauerarbeit haben und spüren, was sie braucht. Was sollte ich ihr also dazu Vorschriften machen?
Vor dem Ego kommt die Verantwortung. Jeder Mensch kann sich bereits in jugendlicher Frische mit der Frage beschäftigen, was zu regeln ist, um den Hinterbliebenen unnötigen Ärger zu ersparen. Doch bedauerlicherweise wird dies zu oft versäumt. So erfahre ich Geschichten von Angehörigen, die erst nach dem Todesfall über ihre Eigentumsverhältnisse in Kenntnis gesetzt werden. Manche Familienangehörigen fallen gar aus allen Wolken, weil sie sich erstmalig mit ihrem Vermögen, mit Hypotheken, Schulden und Pensionskassenbeträgen befassen müssen. Dies wäre vermeidbar.
Als neugieriger Mensch weiche ich vor Gesprächen rund um den Tod nicht zurück. Im Gegenteil: Ich würde es begrüssen, wenn offener darüber verhandelt würde. Wir Europäer scheinen hier aber eine endogene spastische Lähmung zu haben. Je zivilisierter ein Volk lebt, desto spiessiger benimmt es sich, wenn man über das Lebensende sprechen will. Die unnatürlichsten sexuellen Praktiken werden heute hemmungslos verhechelt – beim völlig natürlichen Sterbevorgang jedoch ist man wortfaul und gehemmt. Ich neige zu der Vermutung, dass wir den Tod derart in die abgelegenen Sterbezimmer und Hinterhöfe der Spitäler und die Leichenwagen in die Abend- und Morgendämmerung gedrängt haben, dass wir mit der Illusion leben, um uns herum werde überhaupt nicht gestorben.
Einem Menschen in seinen letzten Stunden beistehen zu dürfen, halte ich für eine grosse Ehre. Wenn man sich anschliessend eine Auszeit nimmt, um zu trauern, sich zurückzubesinnen und den Film des gemeinsamen Weges noch mal laufen zu lassen, so ist das für mich die höchste Stufe der Melancholie: traurig und schön zugleich. Was danach folgt, ist für mich oft eher ein Graus, denn ich mag keine Beerdigungen im konservativen Sinne. Wenn da plötzlich Massen von Menschen unter den Steinen hervorkriechen, um zu sehen und gesehen zu werden, verspüre ich einen Fluchtreflex. So sehr ich die Offenheit schätze – Voyeurismus und Heuchlertum mag ich nicht. Wenn ich mich bei einem Mitmenschen zu seinen Lebzeiten kaum habe blicken lassen, dann brause ich auch danach nicht heran.
Nun, liebe Leserinnen und Leser, probieren Sie es aus. Spannen Sie Ihre Lebensschnur. Vielleicht kommt Ihnen dann in den Sinn, dass Sie noch etwas zu verfügen haben – oder einfach: carpe diem – den unwiederholbaren Augenblick geniessen. Leise rieselt die Sanduhr unseres Lebens.