Der joggende Leonardi, den der Fahnder beinahe spazierend verfolgen konnte, lief bis zur Kasernenwiese. Ihm beim Joggen zuzusehen, löste bei Leuenberger ein Gefühl zwischen Mitleid und Melancholie aus. Hinter der Kaserne gesellte sich, wie zufällig, ein zweiter, wesentlich runder laufender Jogger zum Sizilianer. Zivilfahnder Leuenberger von der Berner Kantonspolizei hätte seine korrigierte Sonnenbrille nicht gebraucht, um Eddy Michaud, den Nationalrat und Unternehmer, zu erkennen. Leonardi und Eddy schienen meist gleichzeitig aufeinander einzureden.
So sieht das also aus, wenn Freiburger- und Sizilianer-Temperament aufeinandertreffen, dachte Leuenberger. Der Fahnder folgte den beiden weiter in sicherem Abstand. Nur hin und wieder musste er seine Geschwindigkeit leicht anpassen, um Leonardi und Eddy nicht aus den Augen zu verlieren. Die beiden Jogger bewegten sich fast in Zeitlupe durch das ganze Kasernenareal, hinüber zum Ausgang bei der Papiermühlestrasse und von dort zum Rosengarten. Als Leuenberger erkennen konnte, wie sie sich im Park auf ein Mäuerchen setzten, beendete er die Beschattung. Was sie genau redeten, konnte er aus der Distanz ohnehin nicht feststellen. Der Fahnder schlenderte den Aargauerstalden hinab bis zum Bärengraben und gönnte sich im Tramdepot ein grosses Helles.
Trotz den vorgeschriebenen Sicherheitsabständen und der reduzierten Anzahl Gäste war der Geräuschpegel im Lokal mit hauseigener Brauerei beachtlich. Leuenberger fühlte sich durch das Stimmengewirr nicht gestört, im Gegenteil. «Allein unter Menschen», diese Umschreibung, die Leuenberger einmal von einem wirtshausliebenden Solothurner Schriftsteller gehört hatte, dünkte ihn bestens geeignet, um seinen liebsten Zustand zu beschreiben. Allein unter Menschen konnte er sich am besten entspannen. Allein unter Menschen fühlte er sich meistens inspiriert. In Grossraumbüros, in alten Wartesälen und in grossen Wirtshäusern fiel ihm das Denken leicht.
Dieser Eddy, dachte der Fahnder nun, dieser Eddy ist ein glitschiger Fisch. Man meint, man habe ihn, aber dann rutscht er einem aus der Hand. Eddy hatte Dafflon gut gekannt. Eddy hatte Salerno gut gekannt. Eddy war dabei gewesen, als Dafflon starb. Eddy traf sich zurzeit mit einem Mitglied von Salernos Clan. Eddy war an der Session des Nationalrats gewesen. Eddy hatte in den letzten Tagen an unterschiedlichen Verwaltungsratssitzungen teilgenommen. Eddy führte eine erfolgreiche PR-Agentur. Eddy hat seine Frau Jeannette mehrmals zu verbotenen Kleinkunst-Vorstellungen begleitet. Eddy ist überall, wie Gott, dachte Leuenberger. Aber Gott braucht nicht zu joggen, um überall zu sein.
Leuenberger klaubte aus der Innentasche seines Jacketts ein abgegriffenes Notizbuch, blätterte, bis er auf die erste leere Doppelseite kam und schrieb in sauberer, gleichmässiger Blockschrift: «Eddy Michaud: Eddy kennt alle, und alle kennen Eddy. Mögliche Motive: Erpressung, Angst vor Image-Schaden. Unbekannte Motive. Persönlicher Eindruck: nicht sauber.»
Dann blätterte der Fahnder auf eine neue leere Doppelseite und schrieb ebenso sorgfältig: «Isa von Greyerz: Isa führt das Kleintheater Aarelauf de facto seit 20 Jahren. Jetzt wird sie auch offiziell die Chefin. Isa scheint in der Stadt gut verankert, aber dennoch einsam zu sein. Mögliche Motive: Machthunger. Unbekannte Motive. Persönlicher Eindruck: eher sauber.»
Wieder begann er eine neue Doppelseite: «Moreno Leonardi: Leonardi scheint eine einigermassen wichtige Funktion im Apparat der Mafia zu haben. Ist körperlich nicht in Bestform. Mögliche Motive: Probleme mit Salerno. Weisung von oben. Persönlicher Eindruck: nicht sauber.»
Leuenberger hatte sein Notizbüchlein bereits in die Innentasche seines Jacketts zurückgesteckt, als ihm etwas einfiel. Er nahm es noch einmal hervor, suchte wieder eine leere Doppelseite und schrieb: «Und wenn es keiner dieser drei war?» Dann legte er das Notizbuch endgültig weg und bestellte noch ein Helles.
SI-Fortsetzungskrimi
Isa von Greyerz dirigiert die illegalen, sehr einträglichen Comedy-Shows im Berner Kleintheater auch nach den plötzlichen Todesfällen ihres Chefs Dafflon und des Mafioso Salerno weiter. Im Corona-Notstand gibt es nicht nur Verlierer! Fahnder Leuenberger stösst auf Salernos Kollegen Eddy, den umtriebigen Nationalrat, der aber von nichts nichts geahnt haben will. Da kreuzt unvermutet der Sizilianer Leonardi Leuenbergers Weg. Der Fahnder schöpft Verdacht – und folgt der Spur.
Zurück im Präsidium, suchte Leuenberger auf seinem Schreibtisch den Aschenbecher. «Welcher Wahnsinnige traut sich, ohne zu fragen, meinen Aschenbecher zu benützen?», rief er durch das Grossraumbüro. Als niemand antwortete, hob er ein Kartonmäppchen an und sah, dass der Aschenbecher unter diesem Mäppchen lag. Das Schriftstück, das er in der Hand hielt, enthielt den Bericht der Gerichtsmedizin. Leuenberger überflog die Einleitung und alle Einzelheiten. Ihn interessierte nur der Befund. Bei Dafflon schien alles auf ein Herzversagen hinzudeuten. Kein Gift, keine sichtbaren Verletzungen, keinen Alkohol im Blut, keine Drogen, dafür verkalkte Arterien, verkalkte Herzkranzgefässe und ein schlaffer Herzmuskel, der seine besten Tage längst hinter sich gehabt hatte.
Ob er den Bericht schon gesehen habe, fragte sein Kollege Nützi vom Nebentisch, der gerade mit einer Thermoskanne aus dem Pausenraum kam. «Gesehen und gelesen», sagte Leuenberger, ohne sichtliche Regung. Dann drehte er sich zu seinem jungen Mitarbeiter und ergänzte: «Sehen ist nicht die gleiche Tätigkeit wie Lesen, Nützi, auch wenn ihr Jungen das nicht begreifen wollt. Lesen ist wie Rauchen: Es sind alte Kulturtätigkeiten, die nur der Mensch beherrscht. Die Tiere beherrschen weder das eine noch das andere. Lesen und Rauchen sind Tätigkeiten, die allmählich verschwinden. Das ist ein doppelter Kulturverlust.»
Urs Viktor Nützi, Leuenbergers Arbeitskollege, der in einem Strassendorf im Gäu aufgewachsen war und deswegen die Angewohnheit hatte, beim Reden den O-Laut ganz geschlossen auszusprechen, sagte nur: «Soosoo. Und was heisst das jetzt?» – «Das heisst, dass ich den Bericht gelesen habe und nun weiss, dass einer von zwei Todesfällen gelöst ist. Wir brauchen nur noch einem offenen Fall nachzugehen.» – «Nur ein Mord statt zwei Morde, das sind 50 Prozent weniger Delikte als befürchtet. Das erleichtert doch die Arbeit!», bemerkte Nützi. «Wir werden es sehen», sagte Leuenberger, «wir werden sehen, ob zwei minus eins tatsächlich eins gibt.» – «Joo, Leuenberger, du bist und bleibst ein Philoosooph!», behauptete Nützi mit seinen unmöglich klingenden Os.
Hätte in diesem Augenblick jemand im Grossraumbüro den Gesichtsausdruck des Zivilfahnders Leuenberger interpretieren können, hätte er wohl ein Wort wie «Schafseckel» aus diesem Gesicht herausgelesen.
Was hatte Eddy, der Nationalrat, mit Leonardi zu besprechen? Und: Gibt zwei minus eins tatsächlich eins?