Als Leuenberger am Tor vor der geschmackvollen Villa in einem steuergünstigen Berner Vorort die Klingel betätigte, hob er kurz den Hut. Er wollte mit dieser kleinen Geste die Kamera grüssen. Es war eine diskret versteckte Linse, die zeitgleich bewegte Bilder von ihm auf einen Bildschirm im Foyer der Villa transportierte.
Das Tor öffnete sich mit einem Summen, und Leuenberger bewegte sich, als wäre er eingeschüchtert von all den perfekt gepflegten Blumenrabatten, die das Strässchen säumten. Beinahe zögerlich näherte er sich dem Wohnhaus. Doch auch wenn es so aussehen mochte, sein Zögern war nicht dem Respekt geschuldet, sondern der drohenden Leere, die ihn immer befiel, wenn ein Fall gelöst war. Mit einem Fingerschnipsen knipste er einen Zigarettenstummel in eine Reihe gelber Sommerblumen, deren Namen ihm entfallen war.
Eine Dienstbotin öffnete die Haustüre und bat ihn um Hut und Mantel. Wettermässig war es ohnehin viel zu warm für Hut und Mantel, aber Leuenberger legte Wert auf Eleganz. Bunte Outdoorbekleidung oder kurze Hosen tolerierte er höchstens bei Kindern. Jetzt führte ihn die Dienstbotin in einen Nebensalon und erklärte mit starkem spanischem Akzent, Madame komme in wenigen Augenblicken.
Leuenberger schaute sich im Salon um, er sah ein Büchergestell, ein paar Topfpflanzen, einige Kunstdrucke mit Bergsujets an der einen Wand und ein Fenster mit Glastüre zum Park. Neben dem Fenster stand eine Vitrine mit Bergkristallen. Im Büchergestell fiel ihm ein Buchrücken auf, der farblich ein wenig aus der Reihe tanzte: «Die 12 schönsten Bergtouren in den Dolomiten». Er schnappte sich das Buch, setzte sich in einen Lesesessel, begann zu blättern, zündete sich eine Zigarette an und schnippte die Asche in einen Blumentopf. Erst jetzt bemerkte der Fahnder, dass eine versteckte Lautsprecherboxe den kleinen Salon diskret mit französischen Chansons beschallte.
Als drei ausgerauchte Stummel im Blumentopf lagen, ging die Türe auf. Eine elegante, drahtig durchtrainierte Dame von ungefähr vierzig Jahren trat ein und füllte mit ihrer Präsenz sofort den ganzen Raum. «Herr Kommissar, entschuldigen Sie, dass ich Sie habe warten lassen, das Crossfit-Training hat etwas länger gedauert.»
Kaum hatte sie den Satz beendet, bemerkte sie den Duft von Zigaretten im Zimmer und öffnete beinahe panisch das Fenster zum Park.
Leuenberger wollte nichts überstürzen, weder im Handeln noch im Empfinden. Da er aufgestanden war, um Madame zu begrüssen, konnte er sich nicht wieder auf den antiken Lesesessel setzen, ehe sie ihn dazu aufforderte.
«Wie geht es Ihrem Herrn Gemahl?», fragte er und wunderte sich selbst über seine antiquierte Wortwahl. «Danke der Nachfrage. Es geht ihm bestens. Er ist heute und morgen geschäftlich in Italien.» – «Ist denn die Grenze bereits offen?» – «Wenn man die notwendigen Bewilligungen hat, schon. Aber sagen Sie, Herr Leuenberger, darf ich Sie fragen, was Sie zu mir führt?»
SI-Fortsetzungskrimi
Im Corona-Notstand gehts in Bern drunter und drüber: illegale und sehr einträgliche Comedy-Shows im Lockdown. Rätselhafte Todesfälle von Theaterdirektor Dafflon und Mafioso Salerno. Eddy, ein umtriebiger Nationalrat, der in dubiose Geschäfte verwickelt ist. Isa von Greyerz, die als Einzige von allem zu profitieren scheint. Und mittendrin Fahnder Leuenberger, der von Bernard Mc Carthy, Arzt und Experte für Messerstichverletzungen, den entscheidenden Tipp erhält.
Leuenberger stand noch immer. Er liess ihre Frage im Raum hängen. Statt direkt zu antworten, stellte er seinerseits eine Frage: «Unternimmt Ihr Mann solch anstrengende Bergtouren, Madame Michaud?» Leuenberger hielt den Band mit den Dolomiten-Touren in die Höhe. «Nein, nein! Eddy hat Höhenangst! Ich bin die Bergziege im Haus! Ich mache seit Jahren Klettertouren und Bergtouren», sagte die Frau und lachte kurz und spitz über ihren kleinen Scherz mit der Ziege.
Leuenberger war unsicher bezüglich der Frage, ob er noch eine Zigarette anzünden soll oder nicht. Er beschloss zu warten. «Wissen Sie eigentlich, dass ich anfangs geglaubt habe, Ihr Mann sei der Mörder von Gennaro Salerno? Salerno hat Ihren Gatten schwer bedroht. Er war aufgetaucht wie ein böser Schatten aus einer problematischen Vergangenheit. Und er war kein sympathischer Charakter.»
Während er redete, beobachtete Leuenberger genau, wie Frau Michaud auf seine Worte reagierte. Dann fuhr er fort: «Ausserdem war Salerno kein Fliegengewicht. Ich dachte erst, es sei einer Frau kaum möglich, ein 80 Kilo schwerer Leichnam ans Aareufer zu transportieren und ihn ins Wasser zu werfen. Aber für eine durchtrainierte Bergsteigerin ist nichts unmöglich.»
Jetzt hielt Leuenberger die Spannung, die er aufgebaut hatte, selbst kaum noch aus, sodass er beinahe mechanisch zur Zigarettenschachtel griff und sich einen weiteren Glimmstängel ansteckte. Als er sah, wie Madame Michaud das Gesicht voller Ekel verzog, entschuldigte er sich. «Ich weiss, ich weiss, der Rauch ist schlecht für die Gesundheit. Aber wissen Sie, was für eine Lunge noch schädlicher ist als Tabak? Die Klinge eines Südtiroler Speckmessers zwischen den Rippen.»
Jeannette Michaud liess den Kopf hängen. Leuenberger war es, als hätte die ganze Spannung der durchtrainierten Bergsteigerin ihren Körper verlassen. Sie liess sich in einen Sessel fallen und begann zu reden. Die Situation lief ganz genau so ab, wie Leuenberger es sich vorgestellt hatte. Mehr noch, ihm kam es vor wie ein Déjà-vu, als hätte er jeden Satz, den sie jetzt sagte, schon einmal gehört: «Wissen Sie, dass ich Eddy wirklich liebe! Salerno hatte nicht das Recht, Eddys Leben zu ruinieren. Salerno hat schon zu viele Leben kaputtgemacht. Und letztlich hat er auch Dafflons Herztod provoziert. Salerno kam zu mir so wie Sie jetzt, in genau diesen Salon. Er war zynisch. Es genügte ihm nicht, meinen Mann zu bedrohen und zu erpressen. Er benahm sich mir gegenüber anzüglich. Hier in der Vitrine bewahre ich Andenken aus den Bergen auf. Darunter ist ein wunderschönes Speckmesser von Lorenzi aus Bozen. Als Salerno versuchte, mir die Bluse zu öffnen, war ich zunächst wie versteinert. Dann sah ich die lüsterne Gier in seinen Augen und wusste, dass er nichts mehr bemerken würde.
Ich griff zum Messer, öffnete es und stach einmal tief zu. Er sah ungläubig auf seine Brust, da hatte ich schon ein zweites und ein drittes Mal zugestochen. Salerno ging rückwärts zwei, drei Schritte durch die offene Glastüre in den Park, dann brach er zusammen. Ich hätte einen Notarzt rufen können, aber ich wollte zusehen, wie er ausblutet und im Todeskampf nach seiner Mutter schreit.»
Jetzt sagten beide nichts mehr.
Man hörte nur die leise Musik aus der Boxe in der Wand. Und als wäre alles inszeniert, sang Edith Piaf in diesem Augenblick: «Non, rien de rien, non, je ne regrette rien!»
Der erweiterte Corona-Krimi von Pedro Lenz erscheint im Herbst im Verlag Kein & Aber.