Was war ich naiv. Anfang März habe ich noch fröhlich meine Problemzonen analysiert und über Aufräumarbeiten selbiger philosophiert. Ich träumte schon von meinen Familienferien in Mexiko. Meine grosse Frage? Ob mir beim Joggen am Sandstrand womöglich die Füsse mehr oder weniger weh tun würden als normal. Immerhin war ich mir damals noch sicher: Ich werde am 1. November in New York meinen allerersten Marathon laufen.
Und dann kam alles anders. Die Ferien in Mexiko fielen dem Coronavirus zum Opfer. Und ich sass plötzlich mit dem Partner, einem Kindergartenkind und einem Zweitklässler am heimischen Küchentisch – Homeschooling meets Homeoffice (der Begriff «Homeschoffice» hat sich ja leider nicht durchgesetzt). So kanns gehen. Und ganz ehrlich? In Anbetracht der weltweiten Krise, die diese Pandemie ausgelöst hat, der vielen Toten – waren und sind meine «Probleme» ziemlich winzig. Sie sind vor allem ausschliesslich meine.
Was tun? Den Spagat wagen und weiter machen? Aufhören und aufs nächste Jahr planen? Oder einfach ruckzuck die Einstellung korrigieren. Ich habe mich für Letzteres entschieden – und mich quasi auf Selbstfindungsreise begeben. Minus Yoga, mit Verlaub. Das ist auch während eines Lockdown nicht meins.
Am Montag, 16. März fanden wir uns das erste Mal in unserer neuen Lebenssituation wieder. Daheim – zu viert. Mit vielen Fragen. Wo sind jetzt die Hausaufgaben für den 8-Jährigen? Und die Kindergarten-Lehrerinnen haben gerade die Anleitung zum Bepflanzen eines Balkon-Gartens geschickt. Wir haben keinen Balkon. Und dann will die «Maaaaaaami» (letzteres bitte laut sagen, gerne auch mit entweder schriller Stimme oder wahlweise vorwurfsvollem Unterton), auch noch joggen gehen. Die will ja 42,195 Kilometer rennen, diese «Maaaaaaami» (der Sohn betont gerne, dass seine Beinmuskulatur stärker ist als meine). Und dafür muss sie trainieren. Viel.
Laut Markus Ryffel (ich bin auch ein Glückspilz. Ich bekomme Unterstützung vom Profi!) auch mal acht Einheiten pro Woche (in der Tat mehr als die Woche Tage hat. Muss man erst sacken lassen). Diese Ausgangslage teilt meine Welt in zwei Möglichkeitsräume, ähnlich wie die ausgedruckten Hausaufgaben mein Wohnzimmer. Option 1: Marathon-Pläne an den Nagel hängen und vertagen/aufgeben. Option 2: Ich sags wie Michelle Hunziker Ende der 90er bei «Cinderella»: «Dranne blibe, dranne blibe, dranne blibe». Ich bin Team Hunziker.
Da hat man sich Pre-Corona endlich mit seiner Neopren-Windel angefreundet und dann ist das Schwimmbad zu. Das Läuferknie (in Professionell: Iliotibiales Bandsyndrom) zwickte damals noch zuverlässig vor sich hin. Coach Ryffels Lösung? Einen Drittel meines Marathon-Trainings auf alternative Sportarten verlagern. Seine Geheimzutat: Aquajogging. Das hat etwas ähnlich Demokratisches wie Tauchen: Alle sehen ein wenig dämlich aus dabei. Das Gute: Es ist wahnsinnig effektiv und schont dabei den Bewegungsapparat.
Wenige Wochen vor Corona habe ich mich aufgerafft und morgens um 6 Uhr (!) ins Hallenbad verirrt. Erst Schwimmen und dann während weiterer 40 Minuten die drei Aquajogging-Grundschritte üben. Für zwei Bahnen brauche ich rund 5 Minuten. Überrundet werden stört mich nachher nicht mehr. Ryffel sagt, die Kilometer im Wasser zählen genauso viel wie die an Land. Als es lief, war es vorbei. Die Neopren-Windel für den Auftrieb fristet seither ein trauriges Dasein im Schrank. Velos und ich? Wir mögen uns nicht. Also blieb nur noch Joggen.
Ich habe tolle Kinder. Das steht ausser Frage. Ich werde wütend, wenn irgendjemand etwas anderes behauptet. Es lag eher an meinen pädagogischen Fähigkeiten auf Primarschulstufe, dass das bei uns mit den Hausaufgaben nicht nur flutschte. Sagen wir, wie es ist: Mein grösstes Talent ist es nicht, aus kryptischen Textaufgaben das kleine Einmaleins zu extrahieren. Für mich war das eine Geduldsprobe auf höchstem Niveau (man darf ja auch mal loben: Der «Paaaaapaaa» war vielleicht ein KLEIN wenig begabter als ich) – und ich musste raus.
Bis jetzt trieb mich nur äusserer Druck zum Sport. Der fehlte plötzlich. Denn seien wir ehrlich. Ob 2020 überhaupt irgendjemand in New York einen Marathon laufen wird, steht in den Sternen. Das Coronavirus hat den Big Apple ganz besonders in der Zange. Und wie aktuell die #BlackLiveMatters-Bewegung zeigt, hat die Stadt wie das ganze Land wichtigere und dringlichere Probleme zu lösen, als die Organisation eines Marathons während/nach/vor der nächsten Pandemie. Was das für mich bedeutet, so im Kleinen? Ich kann mich nicht mehr auf den äusseren Druck als Treiber verlassen. Ich muss das plötzlich ganz alleine schaffen. Mich nur für mich aufraffen. Das ist mir beim Sport zumindest völlig neu. Noch (also am Anfang des Lockdown) kostet es mich jedes einzelne Mal Überwindung, die Schuhe zuzuschnüren. Vom Krafttraining viermal die Woche abends, wenn die Kinder schlafen und ich eigentlich lieber ein Gläschen Wein vor dem TV schlürfen würde, hab ich noch gar nicht zu schreiben begonnen.
Es ist faszinierend, wie schnell man sich an alles gewöhnt, wir switchen beinahe schon routiniert zwischen zwischen Arbeit und Hausaufgaben hin und her. Nach knapp einem Monat «Homeschoffice» (ich gebe noch nicht auf) mache ich eine völlig neue Erfahrung. Sie heisst Lob. Und kommt von meiner brandneuen Pulsuhr (ich hatte mir eine Belohnung verdient, danke) und meiner Renn-App. Erstere frohlockt: «Bettina, du hast alle deine Aktivitätsringe gefüllt. Weiter so!», letztere berichtet von knapp 198 gerannten Kilometern. IN EINEM MONAT. Für mich ist das viel. Das ist zehnmal mit Corona-Einkäufen zu meinen Eltern rennen (totale Transparenz: Das war ein Vergleich. Ich bin immer mit dem Auto gefahren, damit die Kinder Nonna und Nonno noch kurz zuwinken konnten), oder 3960 Bahnen Aquajoggen. Mein Ich von vor einem Jahr würde sagen: «Bis zum Mond und zurück». Oder 198 Kilometer, um mit der auserwählten Jogging-Freundin eine wichtige Freundschaft zu vertiefen, 198 Kilometer, um etwas für mich zu machen. Und nur für mich. 198 Kilometer, ohne dass irgendjemand etwas von mir möchte. Es ist ganz wunderbar. Nur für mich zu laufen, hätte mir schon früher in den Sinn kommen sollen. Wäre ich Yogi, würde ich nun gar von Erleuchtung sprechen. Für mich wars eine alternative Strategie zum Bananenbrot backen (ja, ich mag Yoga, Velos und Bananenbrot nicht. Dafür habe ich eine neue Leidenschaft für Reiswaffeln mit Joghurt-Überzug entwickelt.) Übrigens, im Monat darauf waren es dann ganze 225 Kilometer. BÄM. Meine Renn-App hat mir danach einen Liebesbrief geschickt.
Der Lockdown hat mir gutgetan. Statt der Stadtrundfahrt von Zuhause, in die Schule, ins Büro und wieder zurück (dauert üblicherweise eine Stunde pro Route – und dies zweimal am Tag!), habe ich trainiert. Mit meinem Knie habe ich mich inzwischen versöhnt. Das tägliche Herumtollen auf dem Faszienroller hat ihm offenbar gezeigt, dass wir tief drinnen eigentlich dasselbe wollen. Aus meiner ersten Sportverletzung und meinem ersten Jahr als Rennmaschine habe ich gelernt: Joggen allein reicht nicht. Krafttraining ist genauso wichtig. Denn wenn die Hüften schief sind (Herr Ryffel hat bei der Laufanalyse eine muskuläre Dysbalance diagnostiziert, eine freundliche Umschreibung), der Hintern schlackert und die Arme enthusiastisch winken, ähm, mitwinken, funktioniert das viele Rennen langfristig nicht ohne neue Verletzungen. Statt gemütlich auf dem Sofa ein Buch zu lesen (TV gucken ertrag ich inzwischen nicht mehr. Der macht nach einem Tag voller «Maaaaaaami»-Rufe einfach zu viel Lärm), schalte ich meine Trainigs-App ein. Und weil ich das alles inzwischen aus Spass (?!?) mache, muss ich mich nicht einmal gross dazu überwinden – eine völlig neue Erfahrung. Das Programm der australischen Fitness-Trainerin Kayla Itsines heisst «BBG» - kurz für «Bikini Body Guide». Während ich mich darüber echauffiere, nach einem Bikinifigur-Programm zu turnen (ernsthaft: das klingt wie ein Konzept von lange vor Corona, was ist eine Bikinifigur überhaupt, gibts tatsächlich nur eine? Ich meine nein), hab ich die rund 40 Minuten Training schon hinter mich gebracht. Nach sechs Wochen merke ich: Ok, das hilft. Irgendwie hält langsam alles besser.
Ich wurde übertölpelt. Nach rund fünf Chancen (zweimal als Schwangere) habe ich akzeptiert, dass es an mir liegt, dass Yoga und ich nicht zusammenfinden. Und dann passierte das: Plötzlich bellt mir Kayla Itsines in ihrer unverkennbar, nun, «belligen» Stimme Kommandos ins Ohr, die mich meinen Körper in altbekannte Positionen krümmen lassen. ICH MACHE PLÖTZLICH YOGA. Einfach unter dem Künstlernamen «Cool Down». Der Feind präsentiert sich neu in zwei anderen Manifestationen: 1. als Hügellauf und 2. getarnt als Burpee. Ersteres heisst kurz und knapp – Hügel raufsprinten (nach Ryffels Technik), gerne 8 bis 10 Mal in einem wöchentlichen Training. Der Körper müsse sich an erhöhte Belastungen gewöhnen, sagt Ryffel. Macht Sinn. Kostet mich aber viel Überwindung. Kommt dann schon irgendwann. Um meine Burpee-Versuche hingegen hülle ich gerne den Mantel des Schweigens. Zum Glück hat meine Wohnung einen besonders schallfesten Fussboden. Federleicht läuft hier nichts. «Rumms» beschreibt den Hüpf-Vorgang am besten. Ich nutze inzwischen die Option «Übung ersetzen». Feinde muss man sich erarbeiten, aber einer aufs Mal reicht mir.
Mir ist völlig klar, dass das nicht immer so weiter gehen wird. Irgendwann fahre ich wieder mit der Tram ins Büro. Was bleibt: Die Überzeugung, dran zu bleiben. Dieses für mich durchaus neue Gefühl, mich fit zu fühlen, hab ich sehr lieb gewonnen. Das wird mich in absehbarer Zeit wieder vor logistische Probleme stellen. Wie ich meinen hochprozentigen Job um rund acht Traingseinheiten und meine Kinder baue, ohne dass zu viel Familienzeit verloren geht, werde ich ausknobeln müssen.
Dank Lockdown und geschlossenen Schulen weiss ich inzwischen: Das Unvorstellbare lässt sich regeln. Immerhin dachten wir noch vor ein paar Wochen, dass es unmöglich ist, zusammen mit Kindern im Homeoffice zu sein. Hinter uns liegen ganze Monate, während derer wir das scheinbar Unmögliche zwangsläufig möglich gemacht und uns mehrmals täglich wieder neue Lösungen überlegt haben. Uns haut nix mehr um – da wird man doch dieses Marathon-Training auch irgendwie organisiert bekommen, oder?
41 Jahre lang habe ich vor allem mein Sitzfleisch trainiert. Nach einem Jahr Rennen bereite ich mich auf meinen ersten Marathon vor. Angeblich wächst man ja an seinen Herausforderungen. Die ist bei 42,195 Kilometern sicher gross (und weit) genug. New York mag ich so als Stadt, warum da nicht mal joggen gehen, oder? Als Neuling im Sport-Metier ist mir klar – ich kann das nicht allein. Deshalb hilft mir Markus Ryffel. Der weiss, wovon er spricht. Und er hat schon, sagen wirs mal leger, ein paar Marathönchen hinter sich.
Meine Reise nach New York und damit meinen Startplatz am TCS New York City Marathon habe ich via markusryffels.ch gebucht (und bezahlt – mit einem Journalistenrabatt. Totale Sportlerinnen-Transparenz!). Obs klappen wird? Wir werden sehen. Ich gelobe, fleissig zu sein. Startschuss ist am 1. November 2020 – bis dahin gibts hier bei schweizer-illustrierte.ch regelmässige Updates.