Zum Shooting im Basler St. Johann-Quartier erscheint Tanja Grandits an diesem Vormittag superpünktlich und gut gelaunt, mit Schokolade für alle im Team und einer Thermoskanne Ingwertee für sich. Sie sei heftig erkältet, erklärt sie mit einem bedauernden Lächeln, aber am Morgen hätte sie ausnahmsweise was Stärkeres als Ingwertee geschluckt, um für Fotos und Interview parat zu sein. Kneifen ist für die Frau mit der Figur einer Elfe und dem Lächeln eines Buddhas keine Option. Erkältungen fange sie sich selten ein, höchstens einmal im Jahr, zum Herbstanfang. «Vielleicht macht mich die Wehmut darüber, dass der Sommer vorbei ist, dünnhäutiger. Ich liebe den Sommer heiss», meint sie.
Normalerweise gebe sie sich dem Kranksein hin, verzichte auf pharmazeutische Helferchen. Nur: Dieser Herbst war für Tanja Grandits, 49, nicht normal. Ihr neuer Titel und ihre Pionierleistung weckten ein derart grosses Medieninteresse, weit über die Landesgrenzen hinaus, dass sie mit Interviewanfragen überhäuft wurde. Sie wurde vom Gourmetführer Gault-Millau zum «Koch des Jahres» 2020 gewählt – nach 2014 schon zum zweiten Mal. Erstmals nun bekam sie die Höchstwertung von 19 Punkten – als erste Frau hierzulande stieg sie in die Königsklasse auf. Die Gratulationen von allen im Fotostudio nimmt «Madame 1000 Volt» mit einem Strahlen entgegen, als wären es die ersten, nicht die tausendsten.
Style: Herzlichen Glückwunsch! Sie wurden von den Gourmetpäpsten des GaultMillau zum besten Koch des Jahres gekürt. Oder zur besten Köchin wohl eher in Ihrem Fall?
Tanja Grandits: Danke! Der offizielle Titel lautet «Koch des Jahres».
Einige Medien schrieben korrekt «Koch des Jahres», andere, sichtlich um Korrektheit bemüht, schreiben Köchin des Jahres. Welche Bezeichnung ziehen Sie denn vor?
Mir ist es eigentlich egal. Ich bin Koch, so heisst der Beruf, den ich gelernt habe, und ich bin weiblich. Ob die Medien Koch oder Köchin schreiben – darüber mache ich mir keinen Kopf. Die ganze Gender-Debatte dreht sich viel zu sehr um sprachliche Spitzfindigkeiten. Die interessieren mich nicht.
Sehen Sie Ihren persönlichen Sieg nicht auch als Sieg für die Frauen, für Gleichberechtigung?
Um den zu behalten, werde ich mich noch mehr ins Zeug legen und versuchen, mich immer weiter zu verbessern.
Sie reden oft von Ihrem Team und sprechen, wenns um Ihre Arbeit geht, von «wir». Ist Teamarbeit der Königsweg zum Erfolg?
Absolut. Es ist der einzige Weg. In meiner Küche arbeiten 14 Leute, im Betrieb insgesamt 29. Wenn die nicht optimal eingespielt sind, Hand in Hand schaffen, kommt nichts Gutes dabei heraus.
Wie halten Sie Ihre Leute bei der Stange, wie motivieren Sie sie, Tag für Tag Höchstleistungen zu bieten?
Meine Rolle ist eher die des Cheerleaders als die vom Boss (hier weicht ihr Lächeln einem lauten, kehligen Lachen). Ich versuche, eine motivierende, familiäre Atmosphäre zu schaffen. Ich gehe mit allen respektvoll und aufmerksam um, das entspricht einfach meiner Art, und erwarte dieses auch rundum. Ich nehme mir Zeit, meinen Leuten zuzuhören, da zu sein, zu helfen, wenn sie mich brauchen. Wie Sie sehen – die klassische Mutterrolle!
Mütter können alles besser, wie wir alle wissen. Sie geben grossherzig zu, dass Sie Leute um sich haben, die etwas besser können als Sie!
Selbstverständlich! Da fällt mir doch kein Zacken aus der Krone.
Bei wenigen Spitzenköchen kennt man die Namen der Nummer zwei oder des Patissiers, bei Ihnen schon. Sie nennen sie in jedem Interview.
Marco Böhler macht so viel für mich, das er besser kann. Angefangen vom Fleisch, über Verhandlungen mit Lieferanten, Treffen mit Handwerkern, Excel-Listen. Neulich hat er einen Anhänger für das Pferd von Emma, meiner Tochter, organisiert. Wir arbeiten schon ewig zusammen, er ist viel mehr als meine rechte Hand. Meine Küche ohne ihn kann ich mir kaum vorstellen! Julian Devernay, mein Patissier, ist ein absoluter Glücksfall. Ich kann mich stets drauf verlassen, dass er mit seinen Kreationen hinter jedes Menü einen finalen Höhepunkt setzt. Das ist mir sehr wichtig, denn auch der letzte Eindruck ist ein bleibender. Leider verwenden auch gute und sehr gute Restaurants zu wenig Sorgfalt aufs Dessert.
Was ist denn Ihre Hauptaufgabe in der Küche – nebst Muttersein?
Meine Aufgabe ist es, Genuss und Freude zu bereiten, magische Momente zu erschaffen, mit Essen.
Schön gesagt! Und konkret?
Kochen tue ich tatsächlich selber weniger als früher. Regelmässig am Herd bin ich für Emma und mich, also privat. Ich stehe aber im Restaurant schon den ganzen Tag in der Küche, vorne, bei meiner grossen Schublade. Da ist das Buch drin, in dem ich die monochromen Menüs komponiere. Die einzelnen Teller mit ihren Bestandteilen sind da skizziert. Mit Farben natürlich.
Sie tüfteln neue Menüs auf Papier aus, am Pult, nicht am Herd. Wissen Sie denn, wie Ihre theoretischen Gerichte und Kompositionen in echt, auf dem Teller, schmecken werden?
Ja. Das weiss ich genau. Erfahrungssache.
Sie scheinen den Spagat zwischen Kind und Karriere spielend zu meistern, seit vierzehn Jahren. Da haben wir uns kennengelernt, als Sie hochschwanger die ersten Kochkolumnen für Style schrieben. Nie habe ich Sie seither gestresst gesehen. Wie machen Sie das?
Ganz einfach: Ich bin gern Koch, und ich bin gern Mutter. Das ist es, was ich am liebsten mache im Leben. Ein grosses Privileg! Ausserdem muss ich nicht einkaufen, waschen oder putzen. Emma hat seit ihrer Geburt eine Nanny. Mittlerweile erledigt Hilal ganz viele Aufgaben hier im Haus. Weil ich hier im «Stucki» unter dem gleichen Dach wohne und arbeite, spare ich viele Wege. Und ich brauche nicht viel Schlaf. Auch das hilft, meinen Tag zu verlängern.
Wie fängt denn ein typischer Tag bei Ihnen an?
Mit Yogaübungen. Die mache ich seit Jahren, und dieses Morgenritual ist nicht verhandelbar. Ich setze mir da keine Zeitvorgabe. Zum Schluss stehe ich Kopf. Dann fühle ich mich bereit für alles. Total lebendig und ganz bei mir. Nach dem Yoga koche ich für Emma und mich Frühstück, wann immer möglich. Es ist unser beider Lieblingsmahlzeit. Und für mich ein Teil von «heiliger» Emma-Zeit.
Ein Kopfstand und es rächts Zmorge sind also Ihre Kraftquellen. Da muss mehr sein – bei der Energie und der Gelassenheit, die Sie verströmen.
Ich schaue zu mir, indem ich mir Gutes tue. Das darf man nicht vergessen, grad Frauen passiert das gern. Denn man kann nicht immer nur geben, man muss auch nehmen. Das fängt damit an, sich selber ernst zu nehmen. Man muss sich selber verwöhnen können, nur dann kann man das auch mit anderen. Ich nehme mein Bedürfnis nach Schönheit und Harmonie ernst, umgebe mich im Alltag damit. Ich habe zum Beispiel ein gelbes Bett, an dem ich mich jeden Abend beim Reinschlüpfen und jeden Morgen beim Aufstehen erfreue. Es kann auch etwas Kleines sein, wie das Badetuch, dessen Textur ich mag, oder die Erinnerung an die letzte Reise, von der das Tuch stammt. Mein Tee schmeckt mir aus einer hübschen Tasse noch besser. Ich durfte in letzter Zeit viele schöne Momente erleben, bei denen ich auftanken konnte: ein Grönemeyer-Konzert etwa. Oder die vielen Gratulationen zum Titel, das Blumenmeer, in dem ich schwamm bei der Preisverleihung hier in meinem Daheim. Für das Fest habe ich meine Herbstferien gestrichen, und zweimal im Jahr Ferien sind wie das Yoga – eigentlich nicht verhandelbar.
So tönt Glück ganz einfach.
Glück ist für mich weniger ein Zustand, sondern eine Tätigkeit. Darauf zu warten, dass es zu einem kommt, halte ich für verschwendete Zeit. Glück ist handeln, Sachen machen. So, wie man sie selber für richtig hält.
Sein Ding durchziehen, kompromisslos – das braucht eine Menge Selbstvertrauen. Woher nehmen Sie dieses?
Ich habe von meinem Elternhaus ein gesundes Urvertrauen mitbekommen. Ich habe vor nichts Angst. Weil ich früh daheim ausgezogen bin und vieles selber entscheiden musste, konnte ich Selbstvertrauen trainieren. Ohne das hätte es meine Freiheitsliebe schwer gehabt ...
Hat der Oscar der Kochwelt Ihr Selbstbewusstsein gestärkt? An die Fassade des «Stucki» setzen Sie neben den Namen Ihres legendären Vorgängers nun auch Ihren.
Das war für mich in den bald elf Jahren hier auf dem Basler Bruderholz nie eine Frage. Nun war das k aus «Stucki» letzte Woche über Nacht verschwunden, wohl gestohlen worden. Marco hat dann einen Handwerker angerufen, er kam, um sich die Sache anzuschauen, und meinte, ob ich nicht gleich bei dieser Gelegenheit meinen Namen dazusetzen möchte. Ich sagte Ja. Denn ich habe mittlerweile das gute Gefühl, dass das Haus mein Schloss ist. Mein kleines Reich, meine heile Welt, zu der ich Sorge tragen will.
Sie öffnen Ihr Schloss wie die gute Fee auch für Leute mit wenig fürstlichem Budget, aber grosser Neugierde.
Wir bieten Leuten unter 25 ein Dreigangmenü zum Preis von sechzig Franken mit Getränk, von Dienstag bis Donnerstag. Und es funktioniert. Es ist eine Freude, zu sehen, wie sich diese jungen Männer und Frauen hübsch aufbrezeln, wie sie das Essen geniessen, ihre kulinarische Offenheit, ihr Interesse. Das freut mich als Koch und als Mutter.
Essen ist das Thema überhaupt. Noch nie wurde so viel darüber geredet, geschrieben, gepostet, geinfluenct, gelikt. Das ist doch die gute Nachricht, oder?
Ist es. Die schlechte aber ist, dass aus dem Thema Essen eine Problemzone geworden ist, ein Minenfeld. Da ging vor lauter Verboten und Philosophien, Theorien und Dogmen eines vergessen. Das Wichtigste überhaupt: der Genuss.
Dass das Thema Essen ins Religiöse abdriftet, haben Sie schon 2009 in einem Interview beklagt. Das ist seither ...
... nicht besser geworden, im Gegenteil.
Aber gut essen ist ja auch kompliziert geworden. Wenn dann noch die Ethik ins Spiel kommt ...
Grundsätzlich ja, aber ... Gut essen und kochen ist dennoch keine Hexerei. Das zeige ich in meinem letzten Kochbuch. Da sind die Rezepte aus meiner privaten Küche drin, die Sachen, die ich für meine Tochter und mich koche. Einfache, handgemachte, frische Sachen, die auch Laien leicht hinbekommen.
Neben Ihrem Job als Koch, Boss, Auto- rin, TV-Kolumnistin auf dem Gault- Millau-Channel, Mutter finden Sie noch Zeit für diejenigen, die weniger Glück und Chancen haben im Leben. Sie engagieren sich unter anderem vor Ort bei der offenen Kirche Elisabethen und auch global bei einem Projekt von Terre des hommes in Tansania, das Teenager-Müttern zu Ausbildungen und Selbstbestimmung verhilft.
Ich halte soziales Engagement für wichtig und selbstverständlich. Das Projekt in Tansania schien mir das richtige zu sein, um einzusteigen. Ich hätte im November dahin reisen wollen, so war es verabredet. Nun habe ich meinen Afrika-Besuch verschoben. Im Moment will ich nicht weg von meiner Homebase, ich möchte hier voll präsent sein. Mit dem Titelgewinn haben ja auch die Reservationen merklich zugenommen. Und die Gäste wollen mich sehen.
Dann machen Sie also jeden Tag zweimal nach dem Essen die Ehrenrunde durchs Restaurant – als Pflichtübung?
Nein, als Kür! Und ich gehe nicht nach dem Essen, sondern ich bringe den Gästen das Amuse-Bouche und begrüsse sie zum Auftakt, nicht zum Abschied. Das gefällt mir so besser, und den Gästen glaube ich auch.
Sie reiben sich dazu die Hände mit einem Kräuteröl ein, richtig?
Ja, das bringt einen Aromahauch an den Tisch. Kräuter und Aromen sind ganz mein Ding, das Zentrale meiner Küche.
Welches ist denn Ihr Lieblingskraut?
Nur eines? Das wird schwierig! Sicher zu meinen Favoriten gehört die Fenchelblüte. Sie duftet einmalig und ist wunderschön. Darum habe ich sie zu meinem Signet gewählt. Neulich habe ich mir die Blüte sogar oberhalb des Handgelenks tätowieren lassen. Ein bisschen verrückt, aber mir gefällts. Ich freue mich, wenn dann das Pflaster wegkommt und ich meine Blüte immer aus dem Hemdsärmel blitzen sehe.
Sie tragen tagsüber Uniform, eine schwarze Kochjacke. Wie haben Sie es denn mit der Mode?
Ich habe ein grosses Faible für Kleider, sehe darin eine täglich anwendbare Form von Schönheit und Selbstverwöhnprogramm. An oberster Stelle steht klar der Wohlfühlfaktor. Ich schätze natürliche Materialien, schlichte Linien, klare Schnitte und wie bei meinen Menüs ein monochromes Styling.
Wann und wie kaufen Sie Kleider ein? Gönnen Sie sich Shopping-Ausflüge?
Sehr selten, aus Zeitgründen. Am liebsten gehe ich zu Nina van Rooijen in Zürich im Viadukt. Ich mag die Sachen, die sie entwirft, und die Labels, die sie führt. Sie kennt meinen Geschmack und macht für mich eine Vorauswahl, mit der sie meist ins Schwarze trifft. Wenn ich unterwegs bin und zufällig an ein tolles Stück gelange, bin ich sehr spontan und kaufe es. So wie die kuschlige Kaschmirjacke in Eierschalenweiss, die ich in St. Moritz gefunden habe, als ich da bei einem Event kochte. (Tanja Grandits trägt diese auf dem ersten Bild unseres Shootings.) Von der Style-Auswahl fürs Shooting leiste ich mir sicher auch das eine oder andere Stück.