Die Zerstörung von Ökosystemen hat fatale Folgen: Schreitet sie fort, wird das Aufkommen von Erregern begünstigt. «Die Welt wird immer heisser und kränker, lautet die Schlagzeile», sagt Infektiologe Jan Fehr, Chefarzt am Zentrum für Reisemedizin und Vorsteher des Departements Public & Global Health an der Universität Zürich.
Herr Fehr, die WHO registrierte bis 1970 alle 15 Jahre eine neue Krankheit, heute sind es bis fünf pro Jahr. Wieso der Anstieg?
Bereits die Erwärmung um zwei Grad kann eine Vielzahl neuer Infektionskrankheiten mit sich bringen. Bis 2070 gibt es im Tierreich laut Modellberechnungen 4500 komplett neue Übertragungen von einer Spezies auf eine andere. Im Wissen, dass viele neue Infektionen beim Menschen ihren Ursprung in der Tierwelt haben, beunruhigt mich das sehr. Das wird sich auch nicht ändern, wenn wir so weitermachen auf unserem Globus.
Was hat der Klimawandel damit zu tun?
Lebensräume verändern sich – durch Hitze, Kälte, Trockenheit, Überflutung. Oft müssen Tiere in andere Lebensräume ausweichen. So kommen Spezies erstmals miteinander in Kontakt. Die eingewanderten Tiere haben sich mit den dort vorkommenden Erregern noch nicht auseinandergesetzt, haben keinen immunologischen Schutz und werden krank.
Und im weiteren Verlauf wir …
Ja. Und zwar auf verschiedenen Wegen. So gelangen zum Beispiel durch die Abholzung des Regenwalds Ökosysteme aus dem Gleichgewicht, der Mensch dringt ins Urwaldgebiet ein, was Übertragungen begünstigen kann. Zu sehen beim Gelbfieber: Treten neue Fälle bei Affen auf, geht es meist nicht lang, bis diese Krankheit beim Menschen vorkommt. Überträgerin vom Affen zum Menschen ist die Tigermücke.
Stichwort Lebendtiermärkte.
Endgültig beweisen liess es sich bisher nicht, aber bei SARS-CoV-2 war es augenfällig, und wir wissen von anderen Krankheiten, dass diese Märkte, wo Tiere ganz eng beieinander gehalten werden, ein Riesenproblem sind. Einige Tiere funktionieren wie eine Relaisstation, etwa wenn man Geflügel in der Nähe von Schweinen anbietet: Das Schwein hat eine für Vogelviren sehr empfängliche Schleimhautoberfläche. Es ist wie ein Mixbecher, der biologische Komponenten mischt und Neues entstehen lässt – zum Beispiel 2009 die Schweinegrippe.
Erderwärmung bringt Krankheit?
Ja, weil die Bedingungen «besser» werden. In Südeuropa gibt es zunehmend Fälle von Denguefieber, das da nicht hingehört; 2022 wurde das West-Nil-Virus erstmals im Tessin nachgewiesen; und Tigermücken, die tropische Krankheiten übertragen können, gibt es in der Schweiz schon länger, die Krankheit glücklicherweise noch nicht.
Krankheiten ohne Grenzen?
Wir reisen viel mehr als früher. Viren und Bakterien reisen mit. Für eine Studie wurden Türfallen in Flughafen-WCs untersucht: In Paris fand man Keime mit Antibiotikaresistenzen, die wir aus Indien kennen! Die vernetzte Welt hat ihren Preis.
Aber nicht alles ist gefährlich?
Nein. Doch wir benötigen bessere Instrumente zur Vorhersage, quasi einen Radar wie in der Meteorologie. Einfach längerfristig, um weltweite Hotspots vorherzusehen. Aus dem Verständnis der dortigen Situation kann man dann extrapolieren. So könnten wir einen Ausbruch oder gar eine Pandemie abwenden, bevor sie entsteht. Wir müssen stärker werden beim Erkennen – also beim Radar – sowie auf der Präventionsseite. Hier muss ein Wandel im Denken stattfinden, da sind wir leider teilweise noch im 19., bestenfalls im 20. Jahrhundert. Es geht auch um Werte und Prioritäten: Wofür investiert man Geld und Zeit? Wofür mobilisiert man Ressourcen?
Nach Corona kam eine weitere Krankheit aus der Tierwelt zu uns: Wurden Affenpocken genug ernst genommen?
Nein, das geschieht erst, wenn die Bedrohung vor der Haustür steht. Bergamo hat uns noch nicht speziell beunruhigt, erst als SARS-CoV-2 im Tessin ankam, begann man, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Dasselbe mit den Affenpocken. Die Mensch-Mensch-Übertragung war nicht im Fokus, denn bisher fand sie durch Nager statt, also vom Tier zum Menschen. Und vor allem: Dies war eine Krankheit weit weg im tiefen Afrika.
Da wären wir wieder bei der globalen Verantwortung.
Schon aus humanitären Gründen müsste es uns etwas angehen. Aber vor allem auch deshalb: Wir haben nur einen Planeten. Was im globalen Süden passiert, geht auch uns an. Egal, ob es weit weg oder nahe entsteht – es kommt früher oder später zu uns.