Stress, Isolation, Überforderung: Corona schlägt aufs Gemüt. Schriftsteller und Psychoanalytiker Jürg Acklin, 75, interessiert sich für die seelischen und emotionalen Langzeitfolgen der Pandemie. «Immer mehr Menschen kommen mit ihren Grundbedürfnissen an den Anschlag.» Zum Interview bittet er nicht auf die Psycho-Couch, sondern an den Tisch seines Landhauses in Küsnacht ZH, wo er mit Beate, 51, und Sohn David, 16, am Waldrand wohnt.
Acklin ist zum dritten Mal verheiratet. «Es war Liebe auf den ersten Blick.» Vor 28 Jahren schrieb er im Hotel in Sils Maria an der Erzählung «Das Tangopaar». Am Nebentisch bestellte eine fesche Österreicherin Forelle blau. Seither geht das Paar gemeinsam durchs Leben. «Erst wenn man zusammen Krisen durchgestanden hat, kann man abschätzen, wie tragfähig eine Beziehung ist.» Zur familiären Glücksformel gehören nicht nur die zwei erwachsenen Töchter, sondern auch die fünfjährige Continental-Bulldogge Zurrly.
Mag der Hund jemanden besonders gut, niest er einem mit Karacho ins Gesicht. «Er ist wie ich: Er lässt mit sich reden. Aber man kann ihm nichts befehlen.» Acklin ist kein Unbekannter, er moderierte den «Literaturclub» und die Sendung «Sternstunde Philosophie». Als Gesprächspartner ist er höflich, interessiert, belesen. Für seine Werke («Froschgesang», «Alias», «Der Vater») hat er zahlreiche Preise erhalten, etwa den Bremer Literaturpreis. Zurzeit schreibt er an seinem elften Roman – das Thema hält er noch geheim.
Jürg Acklin, was macht Corona mit uns? Mit unseren Beziehungen zu Freunden, Fremden, dem Vertrauen in uns selbst und in die Welt?
Das Virus zehrt an unserer Widerstandskraft. Es unterläuft unser Verlangen nach Sicherheit, Kontrollierbarkeit, Nähe, Zugehörigkeit. Problematisch ist auch das Wegbrechen von Planbarkeit in einer Welt, die uns bisher Stabilität versprach. Kurz: Das Vertrauen ins Leben ist irritiert.
Wie gehen Sie selber mit der Ungewissheit um?
Ich habe das Glück, dieses Grundvertrauen zu haben, das mich resilient in Krisen macht. Resilienz ist die Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen ohne Beeinträchtigung zu überstehen. Ich habe einen behinderten Bruder, der bei uns wohnt. Ich weiss, was Existenzbedrohung bedeutet. Für labile Menschen, denen dieses Urvertrauen fehlt, ist die aktuelle Situation problematisch.
Das Fiese an Corona ist, dass jeder vor jedem Angst haben muss. Wie ist da noch gegenseitiges Verständnis möglich?
Es ist tatsächlich paradox: Nie wären Berührungen und Umarmungen wichtiger als jetzt. Doch von uns wird nun Vernunft verlangt. Ich habe mich bereits dreimal testen lassen. Ich trage konsequent eine Maske, wenn ich meine drei Enkel treffe, die für mich eine riesige Glücksmaschine sind. Ich schüttle keine Hände mehr und komme niemandem zu nahe – ausser meiner Frau. Wissen Sie was? Ich vermisse fast nichts. Die Vertrautheit und Verbindlichkeit spüre ich auch so: durch Mimik und Gestik und eine neue Intensität.
Welchen Einfluss hat Corona auf unser Liebesleben, auf Sex und Zärtlichkeit?
Wir Menschen brauchen Intimität. Die Diskrepanz zwischen grösstmöglicher Distanz im Alltag und intensiver Nähe in den eigenen vier Wänden verunsichert. Unsere Gefühle, Wünsche, Bedürfnisse können wir trotzdem mitteilen. Sicher müssen wir in einer Partnerschaft jetzt mehr Kompromisse machen als sonst.
Wie gefährlich ist die Einsamkeit?
Für ältere Leute ist sie besonders schlimm. Auch Junge spüren die Konsequenzen: Die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich, man ist in der Angstschlaufe gefangen. Menschen mit Neigung zu Depressionen manövrieren sich noch rascher in die Hoffnungslosigkeit. Sie sollten möglichst früh Hilfe holen.
Legt ein Erdbeben eine Stadt in Schutt und Asche, verhalten sich die Menschen solidarisch. Seit Corona hat man das Gefühl, dass die Angst die Empathie frisst.
Das Virus ist eine reale Bedrohung und macht uns bewusst, dass wir endliche Wesen sind, verletzbar, sterblich. Ich gehöre mit meinen 75 Jahren zu den älteren Semestern. Meine Zeit ist angezählt, was der Lauf der Dinge und natürlich ist. Corona lässt aber auch junge Menschen sterben, was nicht natürlich ist. Das einzig Gerechte ist, dass die Krankheit alle treffen kann, egal, ob reich oder arm.
Wie können wir uns solidarisch zeigen?
Im Moment, wo ich auf mich Rücksicht nehme, nehme ich auch auf die anderen Rücksicht. In jeder Krise gibt es Ermüdungserscheinungen: Obwohl die Situation objektiv gesehen noch gefährlicher wird, blenden wir das Übel subjektiv aus. Die Solidarität mit dem Pflegepersonal war gross. Nun sind wir froh, wenn man mit dem Thema nicht mehr konfrontiert wird. Unheimlich ist für mich die Entsolidarisierung, der Gedanke, dass es nicht so schlimm ist, wenn es erst mal die «Alten» trifft. Wird das Leben relativierbar und zu einer Kosten-Nutzen-Rechnung, ist ein gefährlicher Punkt erreicht.
Krebspatienten erhalten wegen Corona zum Teil keine Behandlung. Wo bleibt da die Gerechtigkeit?
Dass es zu Engpässen kommt in einem der reichsten Länder der Welt, befremdet auch mich. Zumal wir eines der besten und teuersten Gesundheitssysteme haben. Es scheint da einen wirtschaftlichen Hintergedanken zu geben.
Unsere Gesellschaft war bisher auf Leistung, Umsatz, Effizienz gepolt. Bewirkt Corona ein Umdenken?
Die Hybris, unser globaler Übermut, wurde rapide ausgebremst – wie in einer griechischen Tragödie. Fortschrittsglaube und Hedonismus haben lange unser Denken und Handeln gesteuert. Wir sollten wieder Dankbarkeit und Demut lernen. Und die Relation herstellen zu dem, was wirklich wichtig ist.
Was ist wirklich wichtig?
Das muss jede und jeder für sich selbst entscheiden. Ich empfehle, genau hinzuschauen und sich Fragen zu stellen: Wann ist mir wohl? Bei was ist mir wohl? Mit wem ist mir wohl? Es ist eine Art Aufsuchen von inneren Orten, die uns Halt und Sinn geben.
Wie können wir die seelische Widerstandskraft fördern?
Es hilft schon, sich eine eigene Meinung zu bilden. Ich zum Beispiel nutze verlässliche Quellen, um mich über das Coronavirus zu informieren. Pausen helfen, das Wissen rational zu verarbeiten. Gespräche beruhigen, ebenso gemeinsam Antworten suchen. Es tut gut, Zweifel und Trauer zu teilen.
Ist eine Beziehung, in der es vorher schon gekriselt hat, zum Scheitern verurteilt?
Nicht unbedingt. Einerseits werden Grabenkämpfe noch verbitterter geführt. Weil man sich trennen will, aber aus ökonomischen Gründen nicht kann. Andererseits gibt es Paare, die dank Achtung und Respekt noch enger zusammenwachsen und verbundener aus der Krise hervorgehen.
Trotzdem nehmen häusliche und sexuelle Gewalt weltweit zu.
In solchen Momenten zeigt sich die widerliche Fratze der Macho-Kultur. Sie trifft die physisch Schwächsten. Meistens ist häusliche Gewalt ein eskalierender Prozess, der sich im Versteckten abspielt. Ausschlaggebend ist die Gewaltneigung einer Person, ihre Impulsivität und fehlende Empathie.
Im Kanton Zürich haben Notfallanrufe von Kindern und Jugendlichen sprunghaft zugenommen. Stimmt Sie das nachdenklich?
Es braucht für Familien neue Verkehrsregeln – als wäre man nur noch in der Altstadt unterwegs und nicht mehr auf der Autobahn. Viele Eltern hadern mit der chaotischen Situation und mit der Unsicherheit, was die Schulen betrifft. Das ist auch für den Nachwuchs stressig. Man darf sich diese Überforderung eingestehen und den Kindern sagen: Hey, du bist überfordert, ich aber auch.
Blicken Sie mit Sorge oder Zuversicht auf die nächsten Monate?
Es bleibt uns nichts anderes übrig, als positiv in die Zukunft zu blicken. Alles andere schadet bloss. Bei schlechtem Wetter spannen wir ja auch den Regenschirm auf und wagen uns nach draussen. Wenn wir uns jetzt schon mit dem fertigmachen, was noch alles auf uns zukommt, meistern wir die Krise nicht. Wer das Negative aufsaugt wie ein Schwamm das Wasser, wird irgendwann ertrinken.