Der Mann als Mass aller Dinge. Gerade in der klinischen Forschung ist das noch häufig so. Allein schon tierexperimentelle Studien werden häufig nur an männlichen Tieren durchgeführt. Und es geht noch weiter: Bei den Zell-Experimenten sind nur etwa fünf Prozent weibliche Zellen dabei. Anscheinend steigen die Kosten, wenn beide Geschlechter untersucht würden. Zudem wird angenommen, dass Frauen aufgrund ihres Hormonzyklus eine höhere Variabilität in Studien bringen. Deshalb werden Frauen in Studien, aber auch in der Grundlagenforschung kaum untersucht. So fehlen Daten über die Manifestation von Krankheiten und Effizienz von Therapien im weiblichen Organismus. Man muss aber auch einräumen, dass Frauen viel weniger bereit sind, an Studien teilzunehmen. Es wird geschätzt, dass 70 bis 80 Prozent der Probanden männlich sind.
«Meine Grossmutter hatte vor ein paar Jahren einen Herzinfarkt. Leider wurde dieser nicht entdeckt, obwohl mein Grossvater mehrfach mit ihr beim Arzt war. Sie müsse sich nur ausruhen, es wäre schon nichts Schlimmes – obwohl wir auf einer Untersuchung hinsichtlich eines Herzinfarkts bestanden. Nachdem sie bereits mehrere Wochen lang unter Schmerzen gelitten hatte, bestand mein Grossvater darauf, den Arzt zu wechseln, und meine Grossmutter wurde ins Spital eingeliefert. Letztendlich wurde tatsächlich ein Herzinfarkt diagnostiziert, und dadurch, dass dieser nicht direkt behandelt wurde, ist sie heute Pflegefall Stufe 4.»*
Bei Herzerkrankungen leiden Frauen öfters unter diagnostischen Ungenauigkeiten. Die Symptome werden später erkannt als bei Männern. Dadurch kommt es zu gefährlichen Verzögerungen. Im Durchschnitt dauert es 37 Minuten länger, bis Frauen medizinische Hilfe erhalten. Das Problem ist, dass die Beschwerden oft falsch gedeutet werden. Zudem sind die Anzeichen eines Herzinfarkts bei Frauen anders. Männer klagen über heftige Schmerzen in der Brust, die in den linken Arm ausstrahlen. Frauen haben unspezifische Symptome wie Unwohlsein, Übelkeit, Erbrechen, Schwindel oder Atemnot. In einer Schweizer Studie aus dem Jahr 2021 wurde gezeigt, dass gerade junge Frauen, die an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung leiden, weniger oft intensiv untersucht und behandelt werden, seltener auf einer Intensivstation aufgenommen werden als Männer, obwohl sie genauso schwer krank sind. Das Risiko, eine Fehldiagnose bei einem Herzinfarkt zu erhalten, ist für eine junge Frau sieben Mal höher als bei einem Mann im gleichen Alter.
«Mit 19 Jahren traten bei mir plötzlich unglaublich starke Kopfschmerzen auf. Ich konnte eigentlich nur schlafen, im Wachzustand waren die Schmerzen unerträglich. Mein Hausarzt, ein Arzt im Spital und der kassenärztliche Notdienst meinten alle, ich hätte nichts, wenn, dann höchstens Stress. Sie haben mir Ibuprofen verschrieben, ein MRT wäre nicht gerechtfertigt. Nach sechs Wochen unerträglicher Schmerzen, die erst mit hoch dosierten Medikamenten weniger wurden, bekam ich irgend-wann mein MRT. Das Ergebnis: ein Tumor im Gehirn.»*
Bei den Medikamenten erhalten in der Regel Frauen und Männer die gleiche Dosierung. Getestet wurden die Medikamente aber vorwiegend an Männern. Ärztinnen und Ärzte haben keine andere Wahl, als ihre Patientinnen trotzdem damit zu behandeln, weil Alternativen fehlen. Untersuchungen weisen jedoch darauf hin, dass Frauen in vielen Bereichen von einer niedrigeren Dosierung profitieren würden. Nun gibt es aber einen Hoffnungsschimmer: Der erste Gendermedizin-Lehrstuhl schweizweit wurde dieses Jahr am Universitätsspital Zürich installiert. Bis spätestens Anfang 2024 soll der Lehrstuhl besetzt werden. Klinisch verankert wird die Gendermedizin in einem Women’s Health Center.
*Die zwei Patientinnen-Geschichten stammen aus der Initiative «My Story for Change» von Roche.