Quälendes Pfeifen, Rauschen, Zischen oder Klingeln: So beschreiben Menschen mit chronischem Tinnitus ihr Leiden. Die Ohrgeräusche erzeugen Stress, Betroffene ziehen sich zurück, jedes zusätzliche Geräusch schmerzt. Als Begleiterscheinungen können Schwindel, Unwohlsein und gar Depressionen auftreten. Und trotzdem hält Dr. Rahul Gupta von der Bündner Klinik Beverin Cazis fest: «Tinnitus ist nichts Bedrohliches oder Gefährliches.» Der Chefarzt Spezialpsychiatrie bestätigt jedoch, dass die Ohrgeräusche sehr lästig sein können. Nicht jeder Tinnitus muss behandelt werden. Wer mit den Geräuschen zurechtkommt, kann auch ohne Therapie damit leben.
Laute Musik als Auslöser
Bei einem akuten Tinnitus liegt meist eine Schädigung des Gehörs vor, etwa ein Hörtrauma wegen zu grosser Lautstärke, zum Beispiel bei Soldaten, die vom Schiessen einen Tinnitus haben. Bei jungen Leuten ist es die Diskothek mit der lauten Musik. Das führt zum akuten Tinnitus, der oft mit Kortison behandelt werden kann. Häufig bildet er sich zurück. «Tut er das nicht, wird das Leiden chronisch. Die körperliche Ursache fällt weg, der Tinnitus verselbstständigt sich. Der Ort der Entstehung verschiebt sich ins Gehirn», erklärt Dr. Gupta.
Die Aktivität im Gehirn kann tatsächlich gemessen werden. Es ist also kein eingebildetes Geräusch. Etwa 10 Prozent der Schweizer Bevölkerung kennen Tinnitusphänomene. 5 Prozent hören permanent Ohrgeräusche, und 1 Prozent ist schwer vom Tinnitus betroffen. Ein grosser Teil leidet an einer sogenannten Hochtonschwerhörigkeit. Behandelt man diese mit einem Hörgerät, verbessert sich auch der Tinnitus.
Interdisziplinäre Behandlung in der Klinik
Die Klinik Beverin Cazis ist spezialisiert auf den chronisch dekompensierten Tinnitus. Chronisch bedeutet länger als drei Monate, und dekompensiert heisst, dass Betroffene mit der psychosomatischen Krankheit nicht mehr zurechtkommen. Eine erfolgreiche Behandlung ist nur durch eine interdisziplinäre Therapie möglich. Neben einer ausführlichen hals-, nasen-, ohrenärztlichen Abklärung kommen psycho- und physiotherapeutische und auch medikamentöse Behandlungen zur Anwendung. «Medikamente gegen Tinnitus gibt es eigentlich keine. In besonderen Fällen setzen wir psychiatrische Medikamente ein, etwa ein Antidepressivum, das sich positiv auf den Schlaf auswirkt. Patienten mit sehr starkem Tinnitus muss man am Anfang helfen, überhaupt therapiefähig zu werden. Wir geben auch Ginkgo zur Förderung der Hirndurchblutung», erklärt Dr. Gupta das Therapiekonzept.
Kernstück der stationären Behandlung ist die Musik- und Hörtherapie. Sie hat das Ziel, das Hören wieder als etwas Positives wahrzunehmen. «Wir gehen mit den Patienten auch in die Natur, manchmal mit verbundenen Augen, damit sie sich nur auf das Hören konzentrieren können», sagt der Chefarzt. Ergänzt wird die Behandlung mit Bewegungs- und Gestaltungstherapie sowie Tanz. Wichtig sei vor allem zu begreifen, dass die Symptome nicht bedrohlich sind. Meditation, Muskelrelaxation, Yoga können helfen. «Am Anfang ist das ein furchtbarer Stress für Patienten, weil alles in Ruhe passiert und der Tinnitus ja gerade in dieser Situation am stärksten ist», bemerkt Dr. Rahul Gupta.
Häufiger Tinnitus wegen der Pandemie
Tinnitus kann jeden treffen, unabhängig von Alter und Geschlecht. Wie man auf die Ohrgeräusche reagiert, hat auch mit der Persönlichkeit zu tun. Es sind oft Menschen mit einem hohen Anspruch an sich selber. «Tinnitus ist die Alarmanlage der Seele. Ist etwas nicht in Ordnung, macht unsere Seele eine Ansage. Das ist bei psychosomatischen Erkrankungen oft der Fall», erklärt Dr. Gupta. In der Pandemie ist Tinnitus häufiger geworden und bei vielen Menschen ausgeprägter, was wohl mit dem sozialen Rückzug zu tun habe.