Hast du schon oder warum willst du nicht? Wie oft haben wir diese Diskussion in den letzten Wochen geführt. Das Resultat? Immer das selbe: Geimpfte ärgern sich über Ungeimpfte und umgekehrt. Konsens? Fehlanzeige.
Das führt immer häufiger zu Auseinandersetzungen – auch im privaten Umfeld. Es kann sogar soweit gehen, dass Beziehungen auseinander driften, Familien sich nicht mehr treffen wollen oder Freunde getrennte Wege gehen. Aber warum ist es uns so wichtig, ob Partner, Freunde und Familie geimpft sind? Wir haben bei Johannes Ullrich, Psychologe und Leiter der Fachrichtung Sozialpsychologie an der Universität Zürich, nach Antworten gesucht.
Style: Zu Beginn hat Corona uns vereint. Bei der Impfung scheiden sich aktuell die Geister. Ist es jetzt vorbei mit der Solidarität?
Johannes Ullrich: Nicht unbedingt. Die Hälfte der Leute hat sich bereits impfen lassen und das meist nicht nur für sich selbst, sondern auch, um andere zu schützen. Das zeugt von Solidarität. Aber natürlich: Die Impffrage reisst einen tiefen Graben in die Gesellschaft.
Warum kommt es zu dieser Spaltung?
Ein Grund ist sicher die permanente Einteilung in «Geimpfte» und «Ungeimpfte». Dabei geht vergessen, dass es weit mehr als nur zwei Positionen gibt. So heben sich manche Leute ihre Impfung für einen späteren Zeitpunkt auf, wieder andere sind sich aus ganz anderen Gründen noch unsicher. Als «Ungeimpfte» landen sie aber im selben Topf wie militante Impfgegner. Ähnliches bei den Geimpften: Es gibt Leute, die lassen sich aus guten Gründen impfen, andere wiederum machen es nur, um eine kostenlose Bratwurst zu bekommen.
Neben der öffentlichen Debatte sorgt die Impfung auch im privaten Umfeld für ordentlich Zündstoff. Warum?
Es ist die erste Massnahme im Kampf gegen das Coronavirus, die freiwillig ist. Und viele Leute machen von dieser Freiwilligkeit Gebrauch – darunter auch solche, von denen wir es nicht erwartet hätten. Das heisst, wir sehen jetzt erstmals, wo Differenzen bestehen.
Wieso ist es uns denn so wichtig, dass Freunde und Familie denselben Impfstatus wie wir haben?
In Beziehungen suchen wir immer nach einem Gleichgewicht. Das heisst: Wir wollen, dass die Menschen, die wir mögen, dasselbe mögen wie wir. Natürlich darf die Partnerin oder der beste Freund auch mal anderer Meinung sein, aber in wichtigen Lebensbereichen gehen wir davon aus, dass sie gleich denken. Ist das nicht der Fall, führt das zu Spannungen.
Warum kommt es dann zum Streit?
Menschen haben die Tendenz, nach Bestätigung zu suchen, wenn sie sich für etwas entschieden haben. Wenn jemand anderer Meinung ist, verunsichert uns das, weil es unsere eigene Position in Frage stellt. Die Folge: Wir fühlen uns angegriffen und beginnen uns zu verteidigen.
Wie sollten wir stattdessen mit der Situation umgehen?
Ich kann nur raten, möglichst offen für die Argumente unseres Gegenübers zu sein. Denn wir müssen uns selbst immer bewusst sein, dass auch wir theoretisch Unrecht haben könnten. Wer signalisiert, dass nur die eigene Meinung richtig sein kann, wird die anderen verärgern.
Und wie lösen wir den Konflikt?
Kommt man im Streit nicht mehr weiter, so kann man sich auch einfach darauf einigen, dass man sich noch uneins ist und den Konflikt eine Weile aushalten muss.
Führt das nicht zur Trennung?
Nicht zwingend. Nur weil man auf der Sachebene nicht gleicher Meinung ist, heisst das ja nicht, dass man auch die emotionale Beziehung zu einem Menschen in Frage stellen muss. Aber klar, eine solche Situation ist sehr belastend – vor allem, wenn es der Lebenspartner ist.
Wird sich die Situation mit den geplanten Privilegien für Geimpfte weiter zuspitzen?
Das kann gut sein. Wenn man verpflichtet ist, sein Zertifikat im Büro oder Restaurant vorzuweisen, dann wird der Impfstatus bis zu einem gewissen Grad automatisch öffentlich. Das kann die Konflikte weiter verstärken, genauso aber auch Begriffe wie «Privilegien für Geimpfte». Sind wir nicht alle privilegiert, weil wir in der Schweiz Zugang zu Impfstoffen haben?