Eine hilfesuchende Frau fühlt sich komisch. Irgendwie zittrig. Ihr ist übel, sie bekommt schwer Luft, hat starke Bauchschmerzen. Keine leichte Diagnose. Eine, die oft fehlinterpretiert wird. Das Gegenbeispiel: Ein hilfesuchender Mann fühlt ein Stechen in der Brust, das in den linken Arm strahlt. Hier schrillen die Alarmglocken. Ab ins Spital! Dabei handelt es sich bei beiden um einen Herzinfarkt. Bei Frauen sind die Symptome nur weniger bekannt und erforscht.
Der Fehler im System: Es gibt in den meisten medizinischen Bereichen weniger Daten zu Frauen als zu Männern. «Gender-Data-Gap» heisst diese Lücke. «Man nennt das Problem auch Bikini-Medizin», sagt Prof. Dr. Catherine Gebhard vom Zürcher Universitätsspital. «Abgesehen von den Bereichen, die von einem Bikini bedeckt werden – der Brust und den Fortpflanzungsorganen – wurden Frauen bisher zu wenig beforscht.» Es sterben jedoch mehr Patientinnen an Herz-Kreislauf-Erkrankungen als an Brustkrebs.
Warum werden Männer und Frauen unterschiedlich krank?
Frauen haben mehr Fettgewebe und weniger Muskelmasse als Männer. Der Wasseranteil im Körper ist geringer. Ihr Darm arbeitet langsamer. Medikamente bleiben länger im Körper. Jedoch werden bei Medikamenten-Studien mehr Männer einbezogen. «Nehmen wir als Beispiel das gehypte Herzmedikament Colchicin. Das wurde an einer Stichprobe mit nur 15 Prozent Teilnehmerinnen getestet und die Arbeit in einer hochkarätigen Zeitschrift publiziert. In Zusatzinformationen, die nur online zugänglich sind, konnte man dann nachlesen, dass das Medikament bei Patientinnen gar nicht wirkte», so Gebhard. Wobei hier unklar sei, ob dies an der geringen Zahl der Frauen in der Studie lag oder am Medikament selbst.
Eigentlich sind Frauen biologisch im Vorteil. Ihre Sexualhormone, die Östrogene, haben eine schützende Wirkung und stärken die Immunabwehr, während das männliche Testosteron diese eher hemmt. Auch bei der aktuellen Pandemie zeigen sich die Unterschiede ganz stark. Frauen erkranken in vielen Ländern zwar häufiger, aber seltener mit schweren Verläufen. Besonders die T-Zellen, die weissen Blutkörperchen, sind bei Patientinnen effizienter.
Lücken in alle Richtungen
«Viele Männer haben noch immer das Gefühl, es gehe um Frauengesundheit und sie nichts an», sagt Nicole Steck, Studienleiterin der neuen Weiterbildung «geschlechtsspezifische Medizin» (Universität Bern und Zürich). «Doch besonders bei Covid sehen wir: Wenn wir verstehen, warum Frauen weniger häufig schwere Verläufe haben als Männer, können wir auch Ansätze finden, wie die Krankheit zu bekämpfen ist.»
Langsam finde zum Glück ein Umdenken statt. Diversität in der Forschung steht mittlerweile für Exzellenz. «Junge, ältere Menschen; Transgender, Frauen und Männer – einen Ausgleich zu finden, macht die Studie komplexer, erfordert mehr Zeit. Frauen nehmen weniger teil, sind oft durch Familie und Job mehrfach belastet. Und die Medizin ist sehr männerdominiert», sagt Gebhard. Man müsse versuchen, diese Barrieren abzubauen. Denn: «Wenn 50 Prozent der Bevölkerung einfach nicht berücksichtigt werden, ist es eine schlechte Studie.»
Kurzer Check-up
Was ist Gendermedizin? Die Disziplin beschäftigt sich mit den biologischen und soziologischen Unterschieden zwischen Männern und Frauen. Sie berücksichtigt diese bei der Prävention, Entstehung, Diagnostik und bei der Therapie von Krankheiten.
Genderforschung versus Gendermedizin: Gender Studies gehen davon aus, dass Geschlechtsunterschiede vor allem soziokulturell und nicht biologisch bedingt sind. Die Genderforschung ist daher nicht mit der Gendermedizin zu verwechseln.
Es ist keine «Frauenmedizin»: Sind Frauen bei der Erforschung von Herzkrankheiten benachteiligt, gibt es auch Diagnosen, die beide Geschlechter betreffen, aber auf Patientinnen fokussieren (Osteoporose, Depression).