Es gab einmal eine Zeit, in der man sich in Bars, auf der Strasse oder gar im Bus kennengelernt hat. Man warf sich mehrmals flüchtige und dennoch verführerische Blicke zu und hoffte, dass einer der Beteiligten mutig genug war, um den ersten Schritt zu wagen. Manchmal reichte ein unscheinbares Lächeln, damit Mr. Right schnellen Schrittes in unsere Richtung stolzierte. Dann gab es noch einen lässigen Spruch obendrauf und zack – wir waren schock-verliebt und verbrachten einen unvergesslichen Abend.
Heute sehen romantische Begegnungen ein wenig anders aus. Ein kleines Lächeln hilft nach wie vor. Allerdings funktioniert auch ein Körper wie der von J.Lo mit Kurzbeschreibung der Interessen und/oder Wünsche, Altersangabe und vielleicht noch eine Verlinkung zum Instagram-Profil. Und das alles wird auf einem Silbertablett namens Smartphone präsentiert. Ihr ahnt es bereits: Die Rede ist von Tinder.
Schreiben ist einfacher als Ansprechen
Seit 2012 ist die Dating-App nun auf dem Markt und hat uns mit jeder Menge Bequemlichkeit und Oberflächlichkeit versorgt. Die Online-Begegnung geht mühelos, man muss nicht erst mit stolz geschwellter Brust zum zukünftigen Date marschieren, sondern kann einmal nach rechts wischen und die Sache ist geritzt. Noch kurz abmachen, wo und wann man sich treffen will – fertig. Alles ganz ohne magische Blicke und mutige Schritte. Schreiben ist eben einfacher als Ansprechen.
Natürlich können durch Tinder auch dauerhafte Beziehungen entstehen. Es muss schliesslich nicht immer nur ein kurzes Techtelmechtel im Hotelzimmer sein. Aber trotzdem ist es das in vielen Fällen. Und wer danach keinen Bock mehr hat, der ghostet den anderen einfach.
Ein Tinder-Korb ist nicht die Schuld der Technologie
Tatsächlich hat das aber was Gutes: Ihr könnt jegliche Abfuhr der Technologie in die Schuhe schieben oder eurer Fantasie überlassen. Hattet ihr kein Match? Wahrscheinlich wurdet ihr gar nicht angezeigt. Schreibt er euch nicht an? Bestimmt hat er das Match noch nicht gesehen. Hört ihr plötzlich nix mehr? Bestimmt ist sein Handy kaputt. Solche Vorstellungen sind natürlich viel weniger schmerzhaft, als im echten Leben einen Korb zu kassieren. Also swipet ihr unbekümmert weiter.
Doch die amerikanische Anthropologin Helen Fisher (nein, nicht das Schlager-Sternchen) hat das wahre Problem erkannt. Sie spricht vom «Romantic Fatigue Syndrom», das uns Tinder einbrockt. Gemeint ist damit, dass wir immer erschöpfter werden, je länger wir online-daten. In einem Interview erzählt Fisher: «Wenn dich jemand ghostet, belügt oder betrügt, dann ist das kein technisches, sondern ein menschliches Problem.»
Wir sind zu bequem geworden
Autsch, das hat gesessen. Unrecht hat sie damit wohl nicht. Ihr Vorschlag: Wir bauen nur mit neun Usern wirklich Kontakt auf und lassen uns danach auf keine neuen Matches mehr ein. Ansonsten laufen wir Gefahr, dass unser Gehirn mit all den Entscheidungen überfordert ist oder wir auf der Suche nach der perfekten, grossen Liebe in einen Rausch geraten. Der wirkt dann wie eine Droge, macht uns müde und gleichzeitig süchtig nach mehr.
Ausserdem macht uns die Droge bequem. Wir müssen keinen Funken Mut mehr in uns haben, um das Gegenüber anzusprechen. Ein romantischer Flirt mit magischem Augenkontakt? Fehlanzeige. Bei Tinder ist es viel gemütlicher: Der «Funke» wird durch die Software gejagt und ploppt schliesslich in Form einer Benachrichtigung auf dem Bildschirm auf. Ist zwar nicht halbwegs so emotional wie der echte Funke, aber dafür ist das gegenseitige Interessen garantiert.
Ob es das wirklich wert ist, dass wir all die gefühlvollen Momente in einer Bar ausser Acht lassen? Wohl eher nicht. Denn auch wenn die Tinder-Datenbank euch für DAS Liebespaar überhaupt hält, versteht selbst die weltbeste Software nix von echten Emotionen.
Was, wenn wir keinen Erfolg haben?
Aber immerhin lässt uns Fisher neun Matches, um die grosse Liebe zu finden. Und wenn die nicht mit dabei ist? Dann hat die Amerikanerin eine ganz verrückte Lösung parat: Löscht die App. Geht unter die Leute, trefft auf neue Gesichter und Geschichten und seid offen. Na dann, wir wünschen auf jeden Fall viel Erfolg.