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Sexuelle Gewalt an Frauen

«Als Mann hatte ich nie Angst!»

Die meisten Frauen kennen das ungute Gefühl, wenn sie abends alleine nach Hause laufen. Wir meiden einsame Quartiere, umgehen Parks, sind aufmerksam. Die meisten Männer hingegen, machen sich keine Gedanken, wenn sie in der Nacht unterwegs sind. Eine, die das nur zu gut weiss, ist Lynn Bertholet. Vor ihrer Geschlechtsangleichung, lebte sie 56 Jahre im Körper eines Mannes.

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Lynn Bertholet

Lynn Bertholet hatte erst mit 56 Jahren den Mut dazu, ihr Geschlecht anpassen zu lassen. Seitdem lebt sie endlich frei als Frau. 

Magali Girardin

Die Ermordung von Sarah Everard in London zeigt wieder einmal, was täglich hundertfach passiert: Frauen werden sexuell belästigt, missbraucht und auch getötet. Dass schon Mädchen zur ständigen Vorsicht erzogen werden, ist da kein Wunder. Bei Jungs ist das anders: Sie sollen stark sein, ihren Raum einnehmen. Wahrscheinlich kann das kaum jemand so gut beschreiben wie Lynn Bertholet – die heute 62-Jährige lebte lange in zwei Welten. Draussen spielte sie die Rolle des Pierre-André, im Privaten konnte sie sie selber sein: eine Frau. Nach einer Geschlechtsanpassung vor sechs Jahren versteckt sie sich nicht mehr. Seither fühlt sie sich als Mensch endlich frei, muss sich aber wegen ihrer sichtbaren Weiblichkeit auch einschränken.    

Style: Nur wenige können wohl so gut beschreiben, wie es ist, als Frau und als Mann zu leben. Welches Geschlecht hat es einfacher?
Lynn Bertholet: Ganz klar Männer.

Warum?
Sie sind in vielen Bereichen privilegierter. Vor meiner Geschlechtsanpassung haben mir viele Freundinnen gesagt, dass ich sicher ein paar Vorzüge vermissen werde. Ich konnte mir das nicht richtig vorstellen. Erst jetzt, wo ich auch in der Öffentlichkeit als Frau wahrgenommen werde, weiss ich, was sie damals meinten.

Haben Sie ein Beispiel?
Als Mann habe ich mir nie Gedanken darüber gemacht, welcher Parkplatz sicherer sein könnte. Heute wähle ich in der Nacht immer einen, der gut beleuchtet ist, auch wenn ich dafür einen längeren Weg in Kauf nehmen muss.

Hatten Sie denn früher nie Angst?
Nein, ich habe mir nicht einmal Gedanken darüber gemacht, ob eine alltägliche Situation besonders gefährlich sein könnte. Ich lief am Abend durch den Park – das würde ich mich heute niemals mehr trauen. Aber es sind auch die kleinen Dinge, die den Unterschied machen.

Welche?
Zum Beispiel muss man als Frau immer ausweichen, wenn es auf dem Trottoir keinen Platz hat. Das war mir in der Männerrolle überhaupt nicht bewusst. Frauen müssen sich zurücknehmen und Männer nehmen Platz ein – das wurde mir schon als Kind vermittelt.

Können Sie mehr davon erzählen?
Als Junge wurde mir gesagt: Sei stark, sei selbstständig und mutig. Meine Schwester wurde ermahnt, sich in Acht zu nehmen und aufzupassen, wenn sie alleine unterwegs sei.

Und heute nehmen Sie sich auch mehr in Acht, einfach weil Sie eine Frau sind?
Ja, das ist einfach ein Muss. Als Frau ist man sofort auf dem Radar der Männer. Man wird beäugt, bekommt Sprüche zu hören. Das kann Angst machen.

Wo merken Sie sonst noch einen Unterschied?
Männer sind es sich gewohnt, Frauen ihre Meinung zu sagen und keine Widerrede zu erhalten. Kürzlich hat mich ein Mann nicht sehr nett aufgefordert, mein Auto umzuparkieren damit er wegfahren könne. Ich habe ihm gesagt, er müsse nur zweimal die Richtung ändern und falls er das nicht könne: Ich sei in der Armee Lastwagen gefahren und würde das sonst für ihn erledigen. Der Mann war so verdattert. Ich bin sicher, wäre ich ein Mann gewesen, hätte er mich von Anfang an in Ruhe gelassen.

Gilt das auch bei der Arbeit?
Ja. Als Frau muss ich viel mehr dafür kämpfen, Gehör zu finden. Männer unterbrechen Frauen häufig, stellen vieles in Frage. Ich arbeitete schon vor meiner Geschlechtsangleichung in einer Kaderposition einer Privatbank. Danach musste ich meine Kollegen manchmal daran erinnern: «Mein Gehirn ist immer noch das alte, das wurde nicht operiert!»

Hatten Sie auch Verhaltensweisen, die «typisch Mann» waren?
In manchen Bereichen sicher. Und ich habe es gar nicht bemerkt. Männer wissen nicht, wie sie auf Frauen wirken oder welche Privilegien sie geniessen – sie sind ganz selbstverständlich damit aufgewachsen.

Sie möchten aber trotzdem nicht mehr tauschen, oder?
Nein, denn ich war schon immer eine Frau und musste das lange verstecken. Jetzt bin ich frei, merke aber auch, dass es noch vieles gibt, wofür wir Frauen kämpfen müssen, damit wir endlich gleich behandelt werden.

Von lm am 16. März 2021 - 16:09 Uhr